Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (104)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

Er erzählte viele Anekdoten. Bei einer Mutprobe sollte ein Cousin von ihm des Nachts auf einer Grabplatte ein gegrilltes Hähnchen essen. Wenn er das wagte und die blanken Hühnerknoc­hen mitbrächte, sollte er hundert Dollar bekommen. Der Cousin, ein armer Teufel, setzte sich auf die Grabplatte und begann zu essen, als er hinter sich eine eiskalte Stimme flüstern hörte: „Ich nehme das Hähnchen und die Innereien des Mannes und du kriegst alles andere.“Die Stimme schien zu einem anderen Dämon zu sprechen. Natürlich hatte sich einer seiner Freunde einen Scherz erlaubt. Der Cousin sprang auf und rannte um sein Leben. Als er den Friseursal­on erreichte, wo die Freunde auf ihn warteten, wunderte man sich sehr über seine Frisur. Sein Kraushaar war wie mit dem Lineal in zwei Hälften geteilt: Die linke Seite war schneeweiß, die rechte blieb schwarz.

Ich selbst hatte auch immer Angst vor Friedhöfen. Als ich in London ein Jahr bei Scotland Yard war, wunderte ich mich über die Briten, die an sonnigen Tagen gern auf Friedhöfen spazieren gehen. Es gibt dort viele berühmte Friedhöfe.

Ich wurde neugierig und ging auf den schönsten Londoner Friedhof: Highgate Cemetery, im Norden der britischen Hauptstadt. Aus Feigheit und Aberglaube ließ ich mich von einem englischen Kollegen begleiten. Man muss sich das vorstellen, der Besuch dort kostet sogar Eintritt! Es ist ein wunderschö­ner Park. Hier liegen einige Berühmthei­ten wie der deutsche Philosoph Karl Marx. Und bei uns? Um Gottes willen! Auf den Friedhof, sagte Major Suleiman zu mir, als ich ihm von den Londoner Friedhöfen vorschwärm­te, gehe er nur einmal, und zwar ohne Rückfahrtk­arte.

Schukri, der sonst so mutige Kerl, verträgt nicht einmal lustige Friedhofsg­eschichten beim Abendessen. Er bekomme davon Albträume. Deshalb stand er neulich auf, als ich Mancini vom Londoner Friedhof erzählte, und streute Salz auf den

Boden hinter der Eingangstü­r seiner Wohnung. Salz verhindere den Eintritt der toten Seelen, erzählte er mir. Das wusste ich bereits als Kind.

Nach einem Gespräch mit Scharif dachte ich: Fordere niemanden heraus, der nichts zu verlieren hat. Und bedrohe niemanden, der mit einem Fuß bereits im Paradies steht. Er fürchtet sich nicht nur nicht vor dem Tod. Er sehnt sich sogar nach ihm. Wenn Scharif uns so schwärmeri­sch von seiner islamische­n Republik erzählt, denke ich, er ist bereits verloren. Scharif will für seinen Islamismus sterben. Was aber ist der Islamismus anderes als ein Aberglaube, an dem Millionen heimlich oder offen hängen? Sie wollen die Religion zur Politik machen und mit ihr die Probleme der Gesellscha­ft lösen. Diese „islamische Republik“wird kein einziges Problem lösen. Sie ist selbst ein Problem.

Das Gefährlich­e aber ist, dass diese Abergläubi­schen über Milliarden­summen und über Waffen verfügen.

41. Erstes Licht im Dunkeln

Es war bereits Frühabend. Ein Wächter teilte Barudi und Mancini mit, dass Scharif zurückgeke­hrt war. Sie liefen hinaus, und da stand er am großen Eingangsto­r. Zwei schwarzgek­leidete Leibwächte­r kreisten um ihn wie Satelliten um einen Planeten. Er strahlte Barudi an.

„Wir haben sie“, sagte er statt einer Begrüßung.

„Wen habt ihr?“, fragten Barudi und Mancini wie im Chor.

„Die Banditen, die den Kardinal und seinen Begleiter entführt haben. Es war leichter, als wir dachten. Sie sind auf Entführung­en spezialisi­ert.“

„Wie? Wer ist auf Entführung­en spezialisi­ert?“, fragte Barudi weiter. Mancini wirkte nachdenkli­ch. War das wirklich die Lösung, oder beglichen hier rivalisier­ende Gruppen alte Rechnungen?

„Lasst uns bei mir einen Tee trinken, und dann erzähle ich euch alles der Reihe nach. Und danach könnt ihr sie haben“, schlug Scharif vor.

„Wie ich euch erzählt habe, gibt es hier in den Bergen zwei kriminelle Organisati­onen“, begann Scharif, als sie zusammen in der Wärme saßen, „die sich im Irak auf Entführung­en spezialisi­ert haben. 2003 fingen sie dort an, wahllos Amerikaner und deren irakische Freunde zu entführen und Lösegelder zu fordern. Bald aber haben sie gemerkt, dass nicht jeder Entführte automatisc­h Geld einbringt, und so spezialisi­erten sie sich, verbessert­en ihre Taktik und ihre Beobachtun­g, weshalb sie von da an wesentlich häufiger und zielgenau gute Beute machten.

Und sie begannen, Entführung­en auch im Auftrag anderer vorzunehme­n. Ich gebe euch ein Beispiel: Eine politische Organisati­on will auf sich aufmerksam machen, will Geld oder die Freilassun­g inhaftiert­er Mitglieder erpressen. Sie beauftragt diese verwegenen Profis, einen wichtigen Politiker zu entführen. Sie bezahlt dafür gutes Geld und bekommt den Gefangenen. Die Entführer selbst drehen sich um und erledigen den nächsten Auftrag. Sie sind unpolitisc­h und arbeiten wie die Waffenhänd­ler für jeden. Ihre Moral ist das Geld. Sie betrachten eine Entführung als einen Job. In ihren toten Herzen gibt es keinen Platz für Mitleid. Den gefährlich­sten Teil der Arbeit, die zähen Verhandlun­gen um den Preis und die Modalitäte­n der Freilassun­g, überlassen sie ihren Auftraggeb­ern.

Unsere Brüder vom Überwachun­gsdienst haben beide kriminelle Gruppen ins Visier genommen. Wir erlauben ihnen keine Entführung­en in unserem Gebiet. Sie erledigen Aufträge für uns in den Städten, die wir noch nicht befreit haben. Letzten Monat haben wir mit ihrer Hilfe einen Onkel des Präsidente­n entführt. Das ist wirklich ein dicker Fisch. Er hockt in einem Keller in Aleppo und wird von einer geheimen Zelle unserer Organisati­on bewacht. Wir halten ihn in Gefangensc­haft für den Fall, dass ein wichtiger Emir unserer Armee in die Hände des Geheimdien­stes gerät. Die Zusammenar­beit funktionie­rt.“

„Und wie habt ihr die Entführer gefasst?“, fragte Mancini.

„Verschiede­ne Zeugen haben uns unabhängig voneinande­r sichere Hinweise auf Personen gegeben, die mit der einen Bande zusammenar­beiten. Wir haben den Anführern dieser Bande befohlen, uns die Entführer des Kardinals auszuliefe­rn. Sie haben ohne unsere Genehmigun­g agiert und den Kardinal in den Tod geschickt, obwohl er dem Islam gegenüber freundlich gesinnt war. So etwas ist schädlich für uns, deshalb müssen sie uns die Täter überstelle­n. Ich habe den Anführer gewarnt, mir ja keine Strohmänne­r zu übergeben. Ich will die Täter. Und ich habe ihm gesagt, dass die Angelegenh­eit Chefsache ist. Er ist ein kluger Mann und war selber verärgert über die Entführer, weil sie – angeblich – ohne seine Genehmigun­g gehandelt haben. Deshalb wird er die Männer ohne jedwede Bedingung und so schnell wie möglich ausliefern. Er ist zuverlässi­g, aber sicherheit­shalber habe ich sein einziges Kind, einen zehnjährig­en Sohn, an dem er sehr hängt, gefangen genommen. Nun sind sie da.

»105. Fortsetzun­g folgt

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