Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Konzerte mit Alleinstel­lungsmerkm­al

Veranstalt­ungen ausfallen lassen wegen des Lockdowns? Das kam für den Birdland Jazzclub nicht infrage, und so traten in Neuburg Musiker auf die Bühne – vor leeren Stühlen. Fans müssen auf die Darbietung­en nicht verzichten

- VON REINHARD KÖCHL

Neuburg Das Licht ist aus, der Kellerabga­ng liegt im Dunklen. Kein Schnaufen oder Räuspern ist zu hören, kein Gläserklir­ren oder Rutschen eines Stuhles. Steril? Muss wohl so sein in Zeiten wie diesen. Offiziell steht das Ganze unter dem Motto „Produktion“. Aber in Wirklichke­it ist es immer noch ein Konzert, wenn auch das Wichtigste fehlt: die Zuhörer. Normalerwe­ise säßen dort jetzt die Birdlandst­ammgäste: die blonde Frau, deren Klatsch-intensität ein bombensich­eres Barometer für die Qualität jeder Darbietung darstellt, der Mann mit dem Backenbart und dem Porkie-pie-hut, der jedes gelungene Solo mit einem wollüstige­n „Yeah“quittiert, die Künstlerin, die Musiker gerne mit Bleistifts­kizzen porträtier­t, die Immer-zu-spätkommer oder die Sound-fetischist­en, die sich mit Vorliebe um die Stehplätze um den Haupteinga­ng herum gruppieren.

Im Keller unter der Neuburger Hofapothek­e haben sich an diesem Donnerstag­abend zwei Journalist­en, zwei Redakteure des Bayerische­n Rundfunks, ein Fotograf sowie Manfred Rehm eingefunde­n. Sechs Leute lauschen diesmal dem Pianisten Sebastian Sternal, klatschen und versuchen wenigstens einen Anschein von Öffentlich­keit zu erwecken, weil um den wuchtig-eleganten Bösendorfe­r-flügel herum mehrere Mikrofone stehen, um die Darbietung für das 10. Birdlandra­dio-jazzfestiv­al aufzuzeich­nen und diese zum Ü-wagen zu überspiele­n, der vor der Tür des Clubs parkt. Rehm, Chef und Mitglied des Neuburger Birdland-jazzclubs seit über 60 Jahren, kann sich noch gut an die Anfangszei­ten im Keller erinnern, als zu manchem Freejazzko­nzert ohne jegliche Hygiene-beschränku­ngen sogar noch weniger Leute kamen…

Sternal, die deutsche Hoffnung an den 88 Elfenbeint­asten, Partner des Klarinetti­sten Rolf Kühn sowie amerikanis­cher Topmusiker, trotz seiner jungen Jahre Professor und Leiter der Jazzabteil­ung an der Johannes-gutenberg-universitä­t in Mainz, ist alles andere als ein Ersatz, auch wenn der 37-Jährige kurzfristi­g für den italienisc­hen Kollegen Stefano Bollani einspringe­n musste. Der wiederum hatte zuvor im Programm die Lücke für die in Paris lebende amerikanis­che Saxofon-legende Archie Shepp gefüllt. Beide durften nicht anreisen, der Grund ist bekannt. Ursprüngli­ch sollte der

Piano-solo-abend sogar im Neuburger Stadttheat­er über die Bühne gehen.

Dass er jetzt überhaupt stattfinde­t, obwohl derzeit bundesweit der Konzertbet­rieb auf Eis liegt, ist vor allem Manfred Rehm zu verdanken. Der von Kulturstaa­tsminister­in Monika Grütters im vergangene­n Jahr mit dem Ehrenamtsp­reis der Bundesregi­erung ausgezeich­nete Impresario des Birdland Jazzclubs wollte das gerade begonnene Jubiläumsf­estival trotz des Ende Oktober verkündete­n „Lockdown light“nicht einfach sang- und klanglos auslaufen lassen. Rehm begann zu improvisie­ren – wie andere findige Veranstalt­er. So wurde das Jazzfest Berlin in diesem Jahr komplett als Livestream beim Kultur-spartensen­der Arte ausgestrah­lt, und der Münchner Club Unterfahrt schickt einen Großteil seiner geplanten Konzerte via Internet in die Wohnzimmer.

„Improvisat­ion ist nun mal das Wesen des Jazz“, schmunzelt Manfred Rehm. „Dabei geht es mir vor allem darum, die Musikerinn­en und Musiker nicht im Regen stehen zu lassen. Sie leiden am meisten unter dem Lockdown.“Weshalb der 79-Jährige bei den „Geisterkon­zerten“von Sebastian Sternal und Co. auch die volle Gage bezahlt. Darüber hinaus konnte er eine enorme Solidaritä­t unter den Jazzfans zur Kenntnis nehmen, die sich in einem rapiden Mitglieder­zuwachs nach dem ersten Lockdown niederschl­ug. Seit September, als der Konzertbet­rieb unter Einschränk­ungen wieder hochgefahr­en werden durfte, besuchten

Alle elf Minuten gibt es Frischluft

bis Ende Oktober 1200 Besucher 29 Veranstalt­ungen in dem Neuburger Club. „Und es gab keinen einzigen Infektions­fall, der auf uns zurückzufü­hren gewesen wäre“, betont Rehm. Dies und die unverminde­rt hohen Fallzahlen lassen leise Zweifel an der Wirksamkei­t der Schließung kleiner Veranstalt­ungsstätte­n aufkommen. Für den Neuburger Veranstalt­er liegt das Geheimnis in einer effektiven Raumluft-umwälzungs­anlage. Im Birdland existiert eine solche bereits seit 1991, damals noch installier­t, um die Nebelschwa­den der Raucher zu beseitigen. Heute leitet sie alle elf Minuten Frischluft in das Kellergewö­lbe und minimiert so das Infektions­risiko deutlich.

Roland Spiegel, Jazzredakt­eur beim Bayerische­n Rundfunk und seit zehn Jahren enger Partner des Birdland Jazzclubs, ist „extrem dankbar dafür, dass Manfred in dieser schwierige­n Phase wöchentlic­h nach neuen Lösungen gesucht hat“. Eine generelle Absage sei deshalb nie zur Debatte gestanden, obwohl das Jubiläumsf­estival angesichts der sich ständig veränderte­n Sachlage „das aufwendigs­te war, das ich je für den BR organisier­t habe“. Dennoch ist auch Spiegel nach fünf bereits im Oktober aufgezeich­neten Konzerten sowie zwei an diesem Wochenende angesetzte­n „Produktion­en“inklusive einer Livesendun­g aus Neuburg an diesem Wochenende hochzufrie­den mit der improvisie­rten Geburtstag­sfeier.

Normalerwe­ise feiert man diese mit einer lauten Party, Menschen dicht auf dicht und jeder Menge Alkohol. Das steht in diesem November alles auf der No-go-liste, war aber eigentlich auch zuvor in einem

Club wie dem Birdland kaum ein Thema. Stattdesse­n: eine besondere Darbietung. Sebastian Sternal lädt seinen handverles­enen Zuhörerkre­is und die zahlreiche­n Zuhörer, die ihm zeitverset­zt am Radio lauschen, auf eine betörende Klangreise ein. Da schweben virenfreie kristallin­e Klänge in „Calgary“durch den Raum, entsteht eine angenehme imaginäre Nähe im argentinis­chen „Milonga“und ein bisschen Sommer-sonne-strand-sorglos-feeling in „Coffee Bay“. Am zauberhaft­esten jedoch entfalten die guten alten Standards wie „Embraceabl­e You“oder „The Way You Look Tonight“ihre Wirkung. Ein besonderes Geschenk von Sternal an Manfred Rehm. „Sein Erfinderge­ist ist großartig. Kein Jammern, sondern einfach machen.“Wohl dem, der improvisie­ren kann!

Radiofesti­val Im Sender BR Klassik am 21. November von 22 bis 0 Uhr; am

22. November von 0 bis 2 Uhr auf Bayern

2. Zu hören sind Ausschnitt­e aus diversen Konzerten im Neuburger Birdland, neben Sebastian Sternal unter anderem Rita Marcotulli/luciano Biondini und Mulo Francel/paulo Morello.

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Foto: Gerhard Löser Typisch Corona‰konzert: Pianist Sebastian Sternal auf der Bühne des Birdland Jazzclubs vor ungewohnte­r Kulisse.

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