Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Fasziniert von der neuen Frau
40 Jahre pausierte die Malerin Tilla von Gravenreuth, Schlossherrin zu Affing. Dann nahm sie ihr Schaffen im Stil von Bauhaus und Reformpädagogik der 1920er wieder auf. Ihr Spätwerk wurde nun erschlossen
Sie hätte künstlerisch Karriere machen können. Doch ihr Leben verlief als Schlossherrin, Ehefrau und Mutter, ehe die „Baronin“in Affing erst als Siebzigjährige nach dem Tod ihres Ehemannes wieder das Zeichnen aufnahm. Konsequent arbeitete die Malerin Tilla von Gravenreuth (1909–2000) dann weiter an dem neuen Bild des Menschen – speziell dem Bild der Frau, das die Reformpädagogik, das Bauhaus und die klassische Moderne geprägt hatten. Denn ihre angehende Künstlerkarriere in Berlin wurde aufgrund der zunehmenden politischen Unsicherheit in den 1930er Jahren unterbrochen. Tilla von Gravenreuths Avantgarde-qualität entdeckt nun ein Projekt der Kunstpädagogik.
Angesichts ihrer späten, sanft kolorierten Zeichnungen von stilisierten Aktmodellen werden Erinnerungen an die „Roaring Twenties“wach. Die moderne Frau damals trug kurzen Haarschnitt und saloppe, ungezwungene Kleidung, sie rauchte, genoss das Nachtleben und ging zunehmend einer Berufstätigkeit nach. Auch die junge Tilla, Tochter einer großbürgerlichen Industriellenfamilie in der württembergischen Provinz bei Tübingen, sog im kosmopolitischen Milieu der Großstadt im Umfeld der Malschule von Oskar Schlemmer die moderne Lebensweise ein. Wie Figurinen damaliger Modezeitschriften und Bühnenbilder wirken ihre in reduzierter Formen- und Farbensprache gezeichneten Akte. Sie tragen die Anmut des Balletts in sich und folgen dem anthroposophischen Ideal des androgynen Menschen, der sich von gesellschaftlichen Konventionen der Geschlechterrollen löst. In ihrer Formelhaftigkeit zeigen Tilla von Gravenreuths Figuren den Versuch, den Menschen zugleich als leibliches und geistiges Wesen zu erfassen und folgen damit der „Menschenlehre“ihres Lehrers Oskar Schlemmer.
Die Erschließung ihres Spätwerkes – leider erhielten sich frühere Arbeiten der Vorkriegszeit nicht – nahm jetzt die Universität Augsburg in einem Kooperationsprojekt mit den Söhnen Rochus von Schauenburg und Marian Freiherr von Gravenreuth vor. Die geplante Ausstellung kann zwar erst vom 8. bis 23. Juli 2021 gezeigt werden; pünktlich erschienen aber ist der Katalog unter dem Titel „Tilla von Gravenreuth – Gezeichnete Lebenslinien“. Zwei Studierende des Lehrstuhls für Kunstpädagogik, Regine Schurig und Ferdinand Babl, haben ihn gemeinsam mit der Kuratorin Elisabetta Bresciani und der Kunsthistorikerin Christiane Schmidt-maiwald erarbeitet. Dieses Buch ist mehr als eine Auflistung der ausgewählten Exponate, es bietet auf 60 Seiten eine gründliche kunsthistorische Einordnung und Erläuterung von Tilla von Gravenreuths Bildern aus verschiedenen Blickwinkeln.
Nur einmal sind diese Bilder 1985 im Aichacher Kunstverein gezeigt worden. Dessen Gründungsmitglied Gottfried Hecht, selbst Kunsterzieher, empfand ihren Stil als „frisch und unkonventionell“. Angela
Weiß, die ihr im Alter von 16 bis 19 Jahren Modell saß, erinnert sich, dass es der Baronin ein Anliegen war, an ihre Ausbildung in den 1930er Jahren anzuschließen. „Sie wollte noch einmal ausprobieren, was sie in der Kunst erreichen könne.“Ihr Wohnzimmer im Affinger Schloss wurde zum Ort, wo sie ihr eigenes kreatives Milieu erschuf. Wenige Vertraute weihte sie in ihr Tun ein. Elisabetta Bresciani weist darauf hin, dass Tilla von Gravenreuth in ihrem Künstlertum im privaten Rahmen des Schlosses das alte Beziehungsgefüge zwischen dem Aristokratischen und dem Bürgerlichen auflöste und im Austausch mit ihren bodenständigen Modellen eine künstlerisch-pädagogische Strategie verfolgte.
Denn natürlich ergab die Art, wie sie sich dem Menschen annäherte, einen Erklärungsbedarf. Tilla von Gravenreuth ist keine Aktmalerin, in ihren Zeichnungen wird primär kein Geschlecht markiert, nur teilweise modelliert sie Brüste, sodass oft unklar bleibt, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Körper handelt. Mal modelliert sie die synchrone Pose eines Ballettpaares, mal gruppiert sie drei Grazien zueinander, mal kommt es ihr auf eine bestimmte Körperhaltung an.
Sie zeichnet in fließenden Linien, die Kontur soll das Elementare ausdrücken. „Ich denke, es ging ihr nur um die Linie, weniger um mich als Modell“, erzählt Angela Weiß. Mit zarter, verdünnter Aquarellfarbe betont die Künstlerin die Körperlichkeit mit Licht- und Schatteneffekten. Dabei wirken ihre Figuren fast schwerelos und schwebend. Wo sie mit Requisiten gestaltet, entstehen Frauen, die sich nicht lieblich darbieten, sondern in privaten Momenten autonom auftreten. Sei es mit Haar, Hut oder einer Papageienboa, sei es auf Decke, Diwan oder Stuhl.
Tilla von Gravenreuth blieb allerdings nicht in ihrer Studienzeit hängen. Ihre Blätter zeigen auch den ungeschönt direkten Ausdruck des Neo-expressionismus der 1980er mit starker Pose – erschreckt vors Gesicht geschlagene Hände oder in abwehrender Gestik – und kräftigen blauen und roten Farbakzenten.
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Tilla von Gravenreuth – Gezeichne te Lebenslinien. Hrsg. von Elisabetta Bresicani und Christiane Schmidtmai wald. Wißner Verlag, 60 S., 19,80 ¤.