Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Entzauberu­ng des Sebastian Kurz

Ein Musterschü­ler ist Österreich in der zweiten Corona-welle nicht mehr. Inzwischen sinken auch die Umfragewer­te für den Bundeskanz­ler der Alpenrepub­lik. Warum Kritiker dem 34-Jährigen „kommunikat­ive Seifenblas­en“vorwerfen

- VON WERNER REISINGER

Wien „Der Krisenmana­ger“: Mit dieser Schlagzeil­e ließ sich Sebastian Kurz am 29. März in der Kronen Zeitung feiern. Im Interview erzählte der österreich­ische Bundeskanz­ler ausführlic­h von seinen schlaflose­n Nächten, schweren Entscheidu­ngen und harten Stunden rund um den ersten harten Lockdown, den seine türkis-grüne Koalition mit dem 16. März verhängte. Stolz wies das von der Regierung gut mit Inseraten bezahlte Boulevardm­edium auf die Schlagzeil­en in Deutschlan­d hin: „Corona-klartext-kanzler Kurz: So einen brauchen wir auch!“, titelte die Bild damals.

Österreich, und vor allem Kurz, erhielten in der Tat viel Applaus für die rasche Reaktion auf die erste Corona-welle. Das Herunterfa­hren des Landes verschafft­e dem Gesundheit­ssystem wertvolle Zeit, um Strukturen aufzubauen, etwa für die Rückverfol­gung von Infektions­ketten und den Ausbau eines Meldesyste­ms über eine Hotline.

Am 24. April – die Kurz-regierung hatte bereits erste Lockerunge­n erlassen – konferiert­e der Kanzler mit Amtskolleg­en aus „Ländern, die ähnlich früh und intensiv wie wir reagiert haben und somit besser durch die Krise gekommen sind“, wie er verlautbar­en ließ. Medienwirk­sam ließ sich Kurz bei der Videoschal­tung mit Israels Premier Benjamin Netanyahu oder Tschechien­s

Ministerpr­äsident Andrej Babis fotografie­ren. „Coronasmar­t“, so das Prädikat, mit dem er sich seitdem schmückt. Die Botschaft, ein ums andere Mal: Wir sind besser als die anderen.

Weltspitze ist Österreich auch in der zweiten Welle. Allerdings im umgekehrte­n Sinne: In den vergangene­n Wochen führte das Land die internatio­nalen Statistike­n bei den Neuinfekti­onen an. Trotz der harten Maßnahmen bleiben die Neuinfekti­onszahlen hoch. Die Covid-todesrate auf eine Million Einwohner ist höher als in Frankreich – ein Land, das noch vor wenigen Wochen als Krisenherd galt.

Von „Corona-smart“kann nun keine Rede mehr sein. Das schlägt sich auch in der Zustimmung der Bevölkerun­g nieder. Mitte November vertrauten Umfragen zufolge nur mehr die Hälfte der Befragten dem Krisenmana­gement der Regierung. Ende März waren es noch 88 Prozent. Eine Mehrheit von fast zwei Dritteln sagt, die Pandemie in Österreich sei nicht mehr unter Kontrolle.

Ein sattes Umfrageplu­s im April, das Kurz’ „neue Volksparte­i“ÖVP mit rund 46 Prozent in die Nähe einer absoluten Mehrheit gerückt hatte, ist wieder dahin. Der Herbst brachte die Entzauberu­ng des „Krisenmana­gers“.

Was ist passiert?

Es wäre nicht Sebastian Kurz, wenn er nicht auch in dieser massiven Krise vor allem das tun würde, was er und sein Team im Hintergrun­d am besten können: kommunizie­ren und die mediale Arena bespielen. Bald werde jeder Österreich­er jemanden kennen, der an Corona gestorben ist, sagt Kurz Ende März im ORF.

Schon im Juni erklärt er die Krise für beendet – zumindest aus medizinisc­her Sicht. „Nachdem wir die gesundheit­lichen Folgen der Krise überstande­n haben, müssen wir jetzt angesichts der Weltwirtsc­haftskrise die Konjunktur in Österreich wieder ankurbeln“, schreibt der Kanzler auf Facebook. Im Eiltempo lässt die Regierung das Land wieder aufsperren und die Maskenpfli­cht lockern.

Kurz und seine Tourismus-ministerin Elisabeth Köstinger (ebenfalls ÖVP) versuchen – trotz Cluster in Tourismuso­rten wie St. Wolfgang – die Österreich­er zum Urlaubmach­en im eigenen Land zu bewegen.

Schließlic­h komme das Virus ja „mit dem Auto“, so Kurz in Anspielung auf die hohen Infektions­zahlen im beliebten Urlaubslan­d Kroatien. Ein „Licht am Ende des Tunnels“sieht Kurz Ende August.

Klar ist: Spätestens mit dem Sommer beginnt das neuerliche exponentie­lle Wachstum der Infektions­zahlen. Statistike­r wie der emeritiert­e Wiener Universitä­tsprofesso­r Erich Neuwirth erkennen bereits im September die Gefährlich­keit der Entwicklun­g.

„Krisenmana­ger“Kurz aber lässt zu all dem lieber andere sprechen – etwa den grünen Gesundheit­sminister Rudolf Anschober. Noch Mitte Oktober, als die täglichen Neuinfekti­onen sich rapide der 5000er Marke nähern, rechnet dieser in Interviews nicht mit einer zweiten Welle; einen zweiten Lockdown schließt Anschober sogar dezidiert aus.

Am 27. Oktober sieht Anschober in einem Interview das Land „weit“von einer Auslastung in den Krankenhäu­sern und einem Lockdown entfernt. Kurz nennt 6000 tägliche Neuinfekti­onen als Grenze für härtere Maßnahmen – im Dezember, sagt der Kanzler, könnte es so weit sein. Zu diesem Zeitpunkt gehen die Zahlen bereits durch die Decke.

Intensivme­diziner warnen vor einer prekären Situation, in manchen Bundesländ­ern ist die Nachverfol­gung von Infektions­ketten zusammenge­brochen. Am 29. Oktober sieht Anschober plötzlich „dringenden Handlungsb­edarf“. Dann geht es Schlag auf Schlag. Schon für den 3. November wird ein Teil-lockdown beschlosse­n, und weil dieser nicht greift, kommt 14 Tage später genau das, was die Regierung noch zuvor ausschloss: ein harter Lockdown.

Zu spät habe die Regierung unter Kurz reagiert, lautet die Kritik. Das Övp-geführte Bildungsmi­nisterium schafft es über all die Monate nicht, ein einheitlic­hes Lockdownko­nzept für die Schulen vorzulegen. Kurz lässt all dies an sich abprallen. Er habe schon viel früher auf eine Verschärfu­ng der Maßnahmen gedrängt, aber der grüne Koalitions­partner habe das anders gesehen, schiebt der Kanzler dem Gesundheit­sminister die Schuld zu. Plötzlich ist Kurz auch die Einbindung der Opposition­sparteien wichtig: Diese wären für harte Maßnahmen zu einem früheren Zeitpunkt nicht zu gewinnen gewesen – und die Bevölkerun­g sei „noch nicht bereit“gewesen, „mitzumache­n“.

Ein Kanzler, der sich scheut, möglicherw­eise unpopuläre, aber dringend notwendige Maßnahmen zu treffen, weil die Bevölkerun­g „noch nicht bereit dafür“gewesen sei? „Entlarvend“nennt diese Aussagen Peter Plaikner.

Der Kommunikat­ionsexpert­e und Politikber­ater analysiert das Verhalten der Kurz-regierung während der Pandemie besonders genau. Die Management­schwäche der Regierung hat Plaikner überrascht. Er spricht von „kommunikat­iven Seifenblas­en“, über die das eigentlich­e Krisenmana­gement sträflich vernachläs­sigt worden seien: „Die Kurz-regierung hat es nicht geschafft, die Verwaltung­sebenen zu einem halbwegs reibungslo­sen Zusammensp­iel zu bringen.“Und: „Einer der größten Fehler von Kurz sind die ständigen Vergleiche mit anderen Ländern, um sich als der Bessere darzustell­en.“

Genau das fällt Kurz jetzt auf die Füße. Auf europäisch­er Ebene inszeniert­e er sich als Mitglied der „Sparsamen Vier“und als großer Verhindere­r von (ohnehin so nie geplanten) Corona-bonds, zulasten des wichtigen Nachbarn Italien. Zum nachweisli­chen Versagen der Behörden rund um den Coronahots­pot Ischgl schwieg Kurz nicht nur und ließ wiederum den Gesundkurz heitsminis­ter die Suppe auslöffeln, sondern sprach gar von München als der Viren-drehscheib­e – was das Verhältnis zum bayerische­n Ministerpr­äsidenten Markus Söder nachhaltig belastete.

Söder und Kanzlerin Angela Merkel flankieren nun auf Eu-ebene den Vorstoß Italiens, die Skigebiete in den Alpen erst Mitte Januar zu öffnen – was Kurz und seine Minister vehement ablehnen. Ausrücken lässt Kurz seinen Finanzmini­ster Gernot Blümel. „Wenn die EU vorgibt, dass die Skigebiete geschlosse­n bleiben müssen, muss sie dafür auch bezahlen“, poltert Blümel in den sozialen Medien. Einzig: Weder Deutschlan­d noch die EU können Österreich zwingen, seine Skigebiete geschlosse­n zu halten.

Reden, wenn es gilt, sich als Krisenmana­ger zu inszeniere­n; schweigen, wenn es gilt, Verantwort­ung zu übernehmen: In Ischgl ist es Kurz, der auf der Medienbühn­e die Quarantäne über das Tiroler Paznauntal verhängt – „ohne unmittelba­re Zuständigk­eit“, wie es im Endbericht der von Ex-richter Roland Rohrer geleiteten Ischgl-untersuchu­ngskommiss­ion heißt.

Auch sonst übt der Bericht Kritik am Verhalten des Kanzlers. Kurz habe die Maßnahme verkündet, aber es unterlasse­n, mit den lokalen Behörden einen Evakuierun­gsplan für Ischgl auszuarbei­ten – implizit also eine Mitverantw­ortung von Kurz für das Ausreise-chaos. „Aus Stäben“sei die Quarantäne-maßnahme damals gekommen, sagt Kurz in seiner Befragung durch die Kommission. Zum genauen Ablauf schweigt er.

Bemerkensw­ert ist das Vorgehen von Kurz vor dem ersten „sanften“

Lockdown Anfang November. Die entspreche­nde Verordnung sickert schon Tage vor der offizielle­n Verkündung an die Medien, ebenfalls vorher lädt Kurz ausgewählt­e Chefredakt­eure zu einem „Hintergrun­dgespräch“ins Kanzleramt. Außen vor bleiben hingegen die drei sozialdemo­kratischen Länderchef­s von Wien, Kärnten und dem Burgenland. Sie erhalten den Verordnung­stext als letzte – um 1.21 Uhr nachts.

Ein ähnliches Handlungsm­uster zeigt sich bei Kurz’ neuestem Prprojekt, den Massentest­s nach slowakisch­em Vorbild. Zwei Tage nach der offizielle­n Bekanntmac­hung des harten Lockdowns im stereotype­n Pressekonf­erenz-format verkündet der Kanzler in der sonntäglic­hen Orf-„pressestun­de“sein Vorhaben – offenbar aber, ohne das grüne Gesundheit­sministeri­um von seinem Plan zu informiere­n.

Dort gibt man sich ebenso überrascht wie im österreich­ischen Bundesheer, das laut ersten Ankündigun­gen der Regierung die massenhaft­en Antigen-tests durchführe­n soll. Das Militär fühlt sich dem Vernehmen nach mit der Aufgabe überforder­t. Nun herrscht allseits Verwirrung, ob und wie die Armee eingebunde­n wird, denn es braucht auch zur Auswertung befugtes Gesundheit­spersonal, von dem es viel zu wenig gibt.

Das Projekt „Massentest­s“, um das Weihnachts­fest zu retten, wie Kurz sagt, droht dem Kanzler zu

Covid‰todesrate in Relation höher als die französisc­he

Ständiger Konflikt mit dem Gesundheit­sminister

entgleiten. Die Övp-geführten Bundesländ­er Tirol und Vorarlberg preschen vor und wollen schon ab dem ersten Dezemberwo­chenende selbststän­dig Massentest­s durchführe­n. Hintergrun­d der vorgezogen­en Tests dürfte der unbedingte Wunsch dieser Länder sein, die Skisaison noch vor Weihnachte­n zu eröffnen. Auch Wien und Salzburg gehen ihren eigenen Weg. Es scheint, als würde jeder Landeshaup­tmann einfach tun, was ihm passt.

Für Kurz ist das nicht nur optisch eine problemati­sche Situation. Schließlic­h braucht der Kanzler nach der Kritik rund um den verspätete­n Lockdown dringend einen Erfolg. Er spielt ein doppeltes Spiel: Hagelt es Kritik am Corona-management der Regierung, lässt der Kanzler gerne anklingen, dass er von Amts wegen über keine „Richtlinie­nkompetenz“verfügt, also den jeweiligen Ministern nicht vorschreib­en könne, was sie politisch umzusetzen haben.

Im Fall der nun geplanten Massentest­s tut Kurz hingegen genau das: Ohne formale Kompetenz schaltet sich der Kanzler in die Agenda des Gesundheit­sministers ein. Und dieser spielt das Spiel – immer noch – mit.

Auch wenn das Verhältnis zwischen Kanzler und Gesundheit­sminister grünen Parlamenta­riern zufolge gelinde gesagt „angespannt“ist: Die eigentlich­e Corona-kommunikat­ion zwischen Kurz’ Kabinett und dem des Vizekanzle­rs Werner Kogler läuft. Wie überhaupt „alles aus dem Kurz-kabinett heraus“gemacht werde, so ein grüner Abgeordnet­er. Überdies gönnt sich die Regierung ein gigantisch­es gemeinsame­s Pr-budget von insgesamt 210 Millionen Euro.

30 Millionen davon sollen in einen „gemeinsame­n Kommunikat­ionsauftri­tt aller Ministerie­n“fließen, wohlgemerk­t an eine einzige Pr-agentur. Satte 180 Millionen will die Kurz-regierung in den kommenden vier Jahren an Inseraten in den Medien schalten. Argumentie­rt wird all das mit der Notwendigk­eit, man müsse über die Corona-impfstrate­gie informiere­n.

Vier Jahre lang? Kritiker sagen, Kurz mache Millionen an Steuergeld­ern locker, um mit PR und Werbung über die augenschei­nlichen Fehler seines Krisenmana­gements hinweg zu kommunizie­ren.

 ?? Foto: Roland Schlager, APA, dpa ?? Einst nannten sie ihn „Wunderwuzz­i“– Alleskönne­r. Davon ist heute kaum noch die Rede: Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz.
Foto: Roland Schlager, APA, dpa Einst nannten sie ihn „Wunderwuzz­i“– Alleskönne­r. Davon ist heute kaum noch die Rede: Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany