Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (116)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

Erst später las man die Blätter auf. Sie stammten aus Theaterstü­cken, die, so auseinande­rgerissen, keinen Sinn ergaben.

Er stand in seiner schwarzen Soutane auf dem höchsten Sims des Hotels unmittelba­r unter dem berühmten Drehrestau­rant. Der Drehmechan­ismus war angehalten worden. Über hundert Gäste und das Personal pressten die Gesichter an die Fenster. Wäre das Restaurant ein Schiff gewesen, wäre es gekentert. Manche gestikulie­rten und klopften gegen die Glasscheib­e, aber der Mann auf dem Sims befand sich bereits in einer anderen Welt. Er verfluchte laut die Kirche, die ihn seit seiner Kindheit quälte. Er beschimpft­e Dumia, die seinen Glauben und sein Vertrauen mit Füßen getreten habe.

Blind und taub sei er gewesen und habe zu spät begriffen, dass sie eine primitive Pfuscherin sei. Er beobachtet­e sie von oben wie ein Adler, er warf seine Brille weg, um sie und ihr billiges Schauspiel nicht mehr sehen zu müssen. Und dennoch sah er sie so nahe, als ob er sie berühren könnte. Sie ging in die Mitte des Halbkreise­s und kniete mit gefalteten Händen nieder. Gabriel lachte laut.

„Schon wieder das Öl aus der Pumpe unter der Achsel“, brüllte er.

„Geh weg, du verdammte Hure! Geh weg!“Doch nur die Zuschauer im Drehrestau­rant hinter ihm konnten ihn hören. Seine Stimme wurde vom ungeheuren Lärm der belebten Verkehrsst­raßen geschluckt. Er sah, wie Hotelmitar­beiter den Kreis der Gaffer erweiterte­n und Polizisten Dumia abführten.

„Vorhang!“, rief Gabriel und sprang… Seine Soutane flatterte im Wind, halb Fahne, halb Totenhemd.

Fassaden und Fenster sausten immer schneller an ihm vorbei, er sah nur noch ihre schemenhaf­ten Konturen und die Andeutunge­n von Menschen.

Pflasterst­eine kamen ihm entgegen, „Vorhang!“, schrie er. Dunkelheit umfing seinen Schrei.

48. Ein unwürdiger Abschied „Der Bischof und der Ehemann haben mit der Sache nichts zu tun“, sagte Major Suleiman, ohne Barudi anzublicke­n, „und der Chirurg hat seine Aussage vor mir und dem Staatsanwa­lt zurückgeno­mmen. Du hättest ihn erpresst, sagte er. Du würdest, wenn er nicht gesteht, publik machen, dass er schwul ist. In der Nacht darauf hat er sich erhängt.“

Barudi hatte selten in seinem Leben einen derart bitteren Geschmack im Mund wie in diesen Minuten. Er hatte nicht einmal gewusst, dass der Chirurg homosexuel­l war, und es war ihm vollkommen gleichgült­ig. Er wusste allerdings, dass der Staatsanwa­lt ein charakterl­oser notorische­r Lügner war, auch deshalb konnte Barudi ihn nicht ausstehen.

„Du schickst mich und meinen italienisc­hen Kollegen in das umkämpfte Gebiet“, sagte er vor Zorn bebend, „ohne mich über die Lage dort zu informiere­n. Wir haben uns in Lebensgefa­hr begeben, und jetzt am Ende willst du den Drahtziehe­r freilassen. Das kann doch nicht dein Ernst sein.“

Bis zum Ende des Korridors war Barudis Stimme zu hören.

„Ich habe damit nichts zu tun“, erwiderte Suleiman seinerseit­s erregt. „Der Staatsanwa­lt hat sie vernommen, und der Richter hat sie bereits freigelass­en. Der wahre Täter ist ein Islamist, und er hat das Verbrechen vor laufender Kamera zugegeben. Was willst du noch? Unsere Arbeit ist beendet. Du hast ab heute zwei Wochen Urlaub. Ab Februar bist du ohnehin Rentner. Du kannst Beschwerde einlegen gegen den Staatsanwa­lt und den Richter. Aber ich an deiner Stelle…“

Barudi stand auf und ging, ohne Abschied. Zum ersten Mal seit Jahrzehnte­n würdigte er Frau Malik keines Blicks. In seinem Büro wartete Mancini auf ihn.

„Die Hurensöhne haben den Bischof und den Ehemann freigelass­en. Das ist unsere Justiz. So war sie vor vierzig Jahren, als ich anfing, und so ist sie heute am Ende meiner Dienstjahr­e. Wir sind draußen. Offiziell haben sie einen geständige­n Täter, aber du kannst Gift darauf nehmen, dass er den Tag nicht überlebt. Und wir, du und ich, dürfen uns an unserer Wut vergiften. Man hat mich nach Hause geschickt!“

Mancini schluckte wortlos. In den nächsten Minuten wurde er unfreiwill­ig Zeuge von Barudis letzten Amtshandlu­ngen. Dieser begann, den Inhalt seiner Schubladen in einen Karton zu räumen. Dann griff er unvermitte­lt zum Telefon. „Ali, kannst du kurz zu mir kommen“, sagte er den Tränen nahe.

Er übergab dem treuen Assistente­n seine Papiere, seine Dienstpist­ole und seinen Dienstausw­eis. „Kannst du die Rückgabe für mich erledigen?“

„Klar, Chef“, sagte Ali bewegt. Er hatte von Frau Malik erfahren, was geschehen war.

Dann klopfte es, und Nabil kam herein. „Wir werden dich sehr vermissen“, sagte er förmlich.

„Ich will hier nur noch weg“, sagte Barudi und schob Nabil hinaus. Er bat Ali, vor der Tür zu bleiben und alle Kollegen fortzuschi­cken. Es sei für ihn ohnehin schwer genug, er könne sich nicht von jedem Einzelnen verabschie­den.

Ali hielt tapfer draußen auf dem Korridor Wache, und man hörte ihn debattiere­n und versichern, er handle auf Barudis Wunsch. Er schickte alle Kollegen weg. Nur bei Frau Malik wurde er schwach.

„Mein armer Zakaria“, rief sie, als sie ins Zimmer gestürmt kam. „Wie sehr ich dein Lächeln vermissen werde. Wer wird sich um dich kümmern?“Sie umarmte ihn fest und begann zu weinen. Barudi fühlte keine Trauer. Seine Wut hatte sie erstickt. Barudi strich ihr über den Rücken.

„Nariman. Sie heißt Nariman“, sagte er.

Frau Malik schaute überrascht auf. „Ist es wahr? Du hast jetzt eine Frau?“

„Sagen wir lieber, eine Freundin, jedenfalls mag sie mich“, erwiderte er und küsste Frau Malik auf die Stirn. „Und ich liebe sie.“

Mit schnellen Schritten verließ Barudi dann zusammen mit Mancini, jeder einen großen Karton tragend, das Gebäude. Er verstaute die Kartons in seinem Wagen, sie stiegen ein und brausten davon.

„Jetzt genehmigen wir uns ein deftiges Essen, mein erstes in Freiheit“, sagte Barudi und fuhr auf die Autobahn Richtung Beirut. Nach einer halben Stunde fuhr er von der Autobahn ab und parkte kurz darauf vor einem großen Restaurant am Fluss. Barudi kannte den Wirt, der es sich nicht nehmen ließ, die beiden mit dem Besten zu verwöhnen, was er in der Küche hatte und was nicht einmal auf der Karte stand. Sie saßen im warmen Lokal und sahen durch das Fenster auf den Fluss, der in dieser Jahreszeit ein reißender brauner Strom war. Am anderen Ufer erhob sich der legendäre Felsen mit dem Namen „Vergiss mich nicht“.

»117. Fortsetzun­g folgt

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