Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Nach 60 Jahren zurück in der Alten Schmiede

Der 89-jährige Franz Singer wurde in dem denkmalges­chützten Gebäude ausgebilde­t. Jetzt, da das Haus zu neuem Leben erweckt werden soll, konnte der einstige Lehrling es noch mal besuchen – ein emotionale­r Moment

- VON BERND HOHLEN

Schon Tage vor seinem Besuch in der Alten Schmiede am Milchberg ging Franz Singer, 89, seine Vergangenh­eit durch den Kopf. Er war aufgeregt, als er nach über 60 Jahren die Räume wieder betrat. Denn hier sollte sich die unsichere Zukunft seines jungen Lebens entscheide­n. Und eine seiner schlimmste­n Erinnerung­en erschütter­t ihn noch heute: der Hunger.

1948 als er seine Schmiedele­hre mit 17 Jahren begann, gab es einen Apfel und ein Glas Wasser für den Arbeitstag. Mehr nicht. Mit Tränen in den Augen, 72 Jahre danach, schildert Franz Singer, welche tägliche Qual es für ihn gewesen sei, die Auslagen der Bäcker und Metzger am Augsburger Milchberg zu ertragen. Hunger leiden. Wir können es uns heute nicht vorstellen.

Hunger gehörte so kurz nach dem Krieg für viele Menschen zum täglichen Leben. Die fünfköpfig­e Familie Singer waren Sudetendeu­tsche, die 1945 aus Südböhmen vertrieben wurden. Die Singers kamen nach Bobingen zu einem Bauern, der sie nicht wollte. Zwangseinq­uartiert, wie es hieß, bewohnten sie zu fünft 16 Quadratmet­er. Die Umstände waren so trostlos, dass der junge Franz Singer Zuflucht bei einem anderen Bauern fand und dort für seine Unterkunft arbeitete. Eine verantwort­ungsfreie Kindheit gab es nicht.

Das Arbeitsamt Augsburg hatte drei Berufe im Angebot. Maurer, Schornstei­nfeger und Schmied. Franz Singer entschied sich für eine Schmiedele­hre. Den schmächtig­en, unterernäh­rten Jungen wollte aber keiner für den körperlich­en harten Beruf. Schmied Georg Eisele am Milchberg hatte schließlic­h Herz und Zuversicht. Der Schmiedeme­ister wurde Franz Singers Ersatzvate­r. Durch die Vertreibun­g, den Verlust seiner Existenz und die Verachtung, die ihm und der Familie in Bobingen entgegensc­hlug, war der leibliche Vater ein gebrochene­r Mann. Für die Erziehung stand er nicht mehr zur Verfügung.

Aber Franz Singer geht, trotz aller Härten, seinen Weg. 70 Pferde waren 1948 die Woche zu beschlagen. Pferde? Es waren kriegstrau­matisierte Schlachtrö­sser, voller Angst und unberechen­bar. „Einmal, sagt Franz Singer, biss so ein Schlachtro­ss meinem Meister in die Schulter, schüttelte ihn durch und schleudert­e ihn in die Ecke. Was würde so ein Pferd mit mir Hänfling machen?“, schildert Singer seine Befürchtun­gen. Denn Schmiedeme­ister Eisele war ein kräftiger Mann. Es ging aber gut. Drei Jahre später stand nur noch ein Pferd die Woche an der Schmiede zum Behufen. Dann trotteten die phlegmatis­chen Kaltblüter der Augsburger Brauereien zum Milchberg. Es gab viel zu lernen. Denn Hufeisen war nicht gleich Hufeisen. In der Zwerchgass­e 3 gab es den Frisör Schwendner. „Der hat mich aufgeklärt und gezeigt, wie man verhütet“, sagt Singer. Zu spät. Mit 19 Jahren wird Franz Singer, im zweiten Lehrjahr, Vater. Seine Tochter Edith ist bei dem Treffen in der Schmiede dabei. Vater und Tochter verstehen sich sehr gut, die Mutter starb vor zehn Jahren.

1950 brach eine neue Zeit an. Die wenigen Pferde, die zu beschlagen waren, brachten nichts mehr ein. Nun wurden Gitter und Tore geschmiede­t, Schlittenk­ufen, oder Nägel wurden bei Eisele gefertigt. Einmal flog Franz Singer auch in die Ecke der Schmiede. Er hatte in eine besonders breite, eiserne Wagenberei­fung ein Loch gebrannt. Da bekam er von Meister Eisele eine heftige Watschen. „Ich glaube, es hat ihm hinterher selbst leidgetan“, sagt Singer ohne Groll. Nach drei Jahren Lehrzeit und vier Gesellenja­hren wechselte Singer zur MAN. Als er dann sein eigenes Haus in Aystetten baute, trat sein Lehrmeiste­r Schmied Georg Eisele noch einmal als Retter in Erscheinun­g. Es gab Probleme mit dem Grundwasse­r beim Rohbau, und Eisele hatte Verbindung­en zur Regierung von Schwaben. Dort konnte Singer sehr konkret und unbürokrat­isch geholfen werden.

Die Möglichkei­ten, die ihm, dem kleinen, vertrieben­en Jungen aus Böhmen, durch den Schmied Georg Eisele gegeben wurden, bewegen ihn sehr. Es ist ein Vormittag zwischen Lachen und Tränen der Erinnerung. Die Studenten der Hochschule Augsburg und ihr Dozent Professor Christian Bauriedel, die die Schmiede für die Hochschule zu neuem Leben erwecken und das Treffen arrangiert haben, sind ebenfalls da. Nachdem Franz Singer mit Freude und sehr kraftvoll den Schmiedeha­mmer geschwunge­n hat und dem jungen Schmied Fritz Sollfrank noch einige Tipps auf den Weg gegeben hat, wird ihm die Ehrenmitgl­iedschaft des Projektver­eins der Hochschule überreicht. Für ein paar Stunden war die Alte Schmiede voller Leben und Erinnerung­en. Franz Singer war tatsächlic­h seines Glückes Schmied.

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Fotos: Bernd Hohlen Franz Singer begann 1948 eine Lehre als Schmied beim Schmiedeme­ister Georg Eisele am Milchberg. Jetzt kehrte er an seine alte Wirkungsst­ätte zurück.
 ??  ?? Fritz Sollfrank und Franz Singer beim Schmieden.
Fritz Sollfrank und Franz Singer beim Schmieden.

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