Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (30)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

Es ist wohl eine sehr weite Reise?‘ fragte der Flüchtling. ,Es ist nicht allein die Reise, denn wo sollten wir das Geld für Kost und Wohnung hernehmen?‘ ,Nein, dies ist natürlich gänzlich unmöglich,‘ sagte der Flüchtling.

Wieder saß er eine Weile schweigend da, aber in seinem Herzen spielte er mit dem Gedanken, wie er vielleicht eines Tages imstande wäre, Bernhard das Geld zu einer Badereise zu verschaffe­n.

Dann wendete er sich an den Häusler und nahm selbst das frühere Gespräch wieder auf: ,Es ist keine leichte Sache, einen Sträfling in Dienst zu nehmen,‘ streckte er zuerst einen Fühler aus. ,O, das würde schon recht werden,‘ erwiderte der Häusler.

,Aber Ihr seid vielleicht einer von denen, die auf dem Lande nicht recht gedeihen und auf alle Fälle in der Stadt sein wollen?‘

,An die Stadt denke ich niemals, wenn ich in meiner Zelle sitze,‘ antwortete der Sträfling. ,Da denke ich

nur immer an die grünen Fluren und die Wälder.‘

,Wenn Ihr Eure Strafe abgesessen hättet, so bekämt Ihr das Gefühl, als ob ein großer Teil der Last, die jetzt Euer Gemüt bedrückt, von Euch abgefallen wäre,‘ meinte der Häusler. ,Ja, das sage ich auch,‘ stimmte die Frau mit ein.

,Könntest du uns nicht etwas vorsingen, Bernhard? Aber du fühlst dich vielleicht heute abend zu schwach dazu?‘ ,Ach nein,‘ erwiderte der Junge. ,Deinem Freund würde es gewiß Freude machen,‘ sagte die Mutter. Dem Sträfling wurde ganz ängstlich zumute, fast als stünde ihm ein Unheil bevor. Er wollte den Jungen bitten, das Singen lieber zu unterlasse­n; aber da hatte dieser schon angefangen. Er sang mit weicher heller Stimme, und es war höchst merkwürdig: erst wenn er sang, wurde einem so recht klar, daß auch er ein Gefangener auf Lebenszeit war, der sich nach Freiheit und Bewegung sehnte.

Der Sträfling barg das Gesicht in den Händen, aber die Tränen tropften ihm zwischen den Fingern hindurch. ,Ich, aus dem doch nie etwas Rechtes werden kann, will versuchen, etwas dazu beizutrage­n, dieses Kind aus seinen Banden zu befreien,‘ dachte er.

Am nächsten Tag nahm er Abschied und ging fort. Niemand fragte ihn, wohin er sich wende. Alle drei sagten nur: ,Auf Wiedersehe­n!‘“

„Ja, das taten sie,“sagte der Kranke, der nun endlich den Fuhrknecht unterbrich­t. „Wissen Sie, Herr Aufseher, daß das das Schönste ist, was ich je erlebt habe.“Er liegt ganz still da, während ihm sachte ein paar Tränen über die Wangen rinnen. „Ich bin froh, daß Sie, Herr Aufseher, das wissen,“fährt er fort. „Nun kann ich doch mit Ihnen von Bernhard reden. Es ist mir zumute, als hätte ich meine Freiheit wieder gehabt. Es ist mir, als sei ich bei ihm gewesen. Ich hätte nie geglaubt, daß ich heute nacht noch so glücklich werden könnte.“

Der Fuhrknecht beugte sich nun tief über den Kranken.

„Hört mich an, Holm!“sagt er. „Was würdet Ihr dazu sagen, wenn ich es nun so einrichten könnte, daß Ihr gleich wieder zu Euern Freunden kämet, wenn auch auf andere Weise, als Ihr Euch gedacht hattet. Wenn ich Euch nun das Anerbieten machte, Euch die langen Jahre der Sehnsucht abzukürzen und Euch noch in dieser Nacht frei zu machen; wäret Ihr bereit zu gehen?“

Während der Fuhrknecht das sagt, hat er die Kapuze heraufgezo­gen und die Sense ergriffen.

Der Kranke liegt da und sieht ihn mit großen Augen an, aus denen immer größere Sehnsucht spricht.

„Versteht Ihr, wie ich es meine, Holm?“fragt der Fuhrmann. „Ist es Euch klar, daß ich der bin, der alle Gefängniss­e aufschließ­en kann, daß ich der bin, der Euch auf eine Flucht zu geleiten vermag, wo kein Verfolger Euch einholen kann?“

„Ich verstehe wohl, was du meinst,“antwortet der Gefangene. „Aber wäre das nicht wie ein Unrecht gegen Bernhard? Du weißt, ich bin hierher zurückgeke­hrt, damit ich auf ehrenhafte Weise frei würde und ihm dann helfen könnte.“

„Du hast ihm das größte Opfer gebracht, das du überhaupt bringen konntest,“erwiderte ihm der Fuhrknecht. „Und zum Lohn dafür wird deine Strafzeit abgekürzt und dir die große unverlierb­are Freiheit schon jetzt angeboten. Und um Bernhard brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen.“

„Aber ich hatte ihn doch ans Meer führen wollen,“sagt der Kranke. „Als wir Abschied nahmen, hab ich ihm zugeflüste­rt, ich käme wieder und würde ihn dann ans Meer bringen. Ein Verspreche­n, das man einem Kinde gegeben hat, muß man doch halten.“

„Du willst also die Freiheit, die ich dir zu bieten habe, nicht annehmen?“fragt der Fuhrknecht und richtet sich wieder auf.

„Ach doch, doch!“ruft der Kranke eifrig und faßt nach dem Mantel des Fuhrmanns. „Geh nicht fort! Du weißt nicht, wie mich die Sehnsucht verzehrt. Wenn sich nur ein anderer fände, der Bernhard helfen könnte! Aber er hat ja niemand als mich.“

Plötzlich sieht er mit einem leisen Ausruf der Freude auf.

„Da sitzt ja mein Bruder David!“sagt er. „Jetzt hat es keine Not mehr. Ihn kann ich bitten, Bernhard zu helfen.“

„Dein Bruder David!“sagt der Fuhrknecht voll Verachtung. „Nein, ihn kannst du nicht bitten, ein Kind zu beschützen. Du solltest nur sehen, wie er seine eigenen Kinder behandelt.“

Er bricht ab, denn da sitzt David Holm schon auf der anderen Bettkante und beugt sich über seinen Bruder.

„David,“sagt der Kranke, „ich sehe grüne Fluren und das freie offene Meer vor mir. Ach, David, bedenke, ich habe gar so lange hier eingesperr­t gesessen! Ich kann der Versuchung nicht widerstehe­n, wenn mir die Freiheit winkt und ich sie annehmen kann, ohne ein Unrecht damit zu begehen. Aber da ist das Kind! Du weißt doch, ich habe es ihm versproche­n.“

„Mach dir keine Sorgen!“sagt David Holm. „Ich sage dir, diesem Kind, diesen Leuten, die dir geholfen haben, werde auch ich helfen. Geh du nur hinaus in die Freiheit! Geh, wohin du willst! Ich werde für sie sorgen. Verlasse du nur ruhig dein Gefängnis!“

Bei diesen Worten fällt der Kranke in seine Kissen zurück.

„Du hast ihm das Todeswort gesagt, David,“spricht der Fuhrknecht. „Komm fort von hier! Es ist Zeit für uns zu gehen. Der Befreite soll uns nicht treffen, uns, die wir in Finsternis und Knechtscha­ft gebunden sind.“

X

„Wenn es mir möglich wäre, mich bei dem entsetzlic­hen Knirschen und Quietschen verständli­ch zu machen, würde ich Georg gern ein Wort des Dankes dafür sagen, daß er den beiden, Schwester Edith und meinem Bruder, in ihrem schwersten Augenblick geholfen hat,“denkt David Holm.

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