Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Diese Seuche raffte auch gekrönte Häupter dahin

Die Pocken wüteten im 18. Jahrhunder­t in ganz Europa. Ihren tödlichen Pusteln entging niemand. Bis aus dem Osmanische­n Reich eine Methode zur Vorbeugung kam. Doch mit der Impfung erstarkten die Kritiker

- VON ALOIS KNOLLER

Diese Seuche verschonte niemanden – nicht den Häusler in der schlammige­n Vorstadt, nicht den Kaufmann in der gepflaster­ten Oberstadt, auch nicht den Kaiser. „Der Pest konnte man bei Hofe mit Quarantäne­maßnahmen ausweichen, den Pocken nicht“, sagt Prof. Regina Dauser vom Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universitä­t Augsburg. In der Ringvorles­ung „Geißeln der Menschheit“beschäftig­te sich die Historiker­in mit den Pocken und den Anfängen der europäisch­en Impfdebatt­e im Zeitalter der Aufklärung.

Die „Blattern“, wie man sie volkstümli­ch wegen der entzündlic­hen Bläschen auf der Haut der Erkrankten nannte, war die Seuche des 18. Jahrhunder­ts. Sie wütete in ganz Europa und kehrte in Schüben immer wieder. Im Heiligen Römischen Reich forderten die Pocken jährlich bis zu 70000 Todesopfer – rund zehn Prozent aller Todesfälle auf dem Kontinent. Die Pocken konnten in jedem Lebensalte­r ausbrechen und gefährdete­n jeglichen Stand. Wer sie überlebte, war zeitlebens gezeichnet. Pockennarb­ige Gesichter kennzeichn­en die Porträts der Zeit. Aber auch Taubheit, Blindheit und Lähmung konnte das heimtückis­che Variola-virus bei den Befallenen hinterlass­en.

Herrscher wurden von den Pocken dahingeraf­ft. Der junge Habsburger Kaiser Joseph I. glaubte sich bereits über dem Berg, als sich am 9. April 1711 erneut die Pusteln auf seiner Haut zeigten. Eine Woche später glühte er vor Fieber, am 17. des Monats starb er. Die Regentscha­ft trat Kaiserin Maria Theresia an, die ihrerseits sechs Kinder infolge der Pocken vorzeitig zu Grabe tragen musste. Nicht besser erging es dem französisc­hen Bourbonenh­of. Der älteste Sohn des Sonnenköni­gs Ludwig XIV. starb 1711 an den Pocken. Sein Enkel Ludwig XV. überlebte zwar 1757 ein Attentat, doch der, der sich als unverwundb­ar wähnte, infizierte sich am 29. April 1774 und starb am 10. Mai. „Weil sich nicht einmal die Privilegie­rtesten schützen konnten, rief die Seuche in ganz Europa Grauen hervor“, weiß Regina Dauser.

Die ärztliche Kunst der Epoche versagte vor den Pocken, medizinisc­he Behandlung­en etwa mit Aderlässen und Wundumschl­ägen brachnamha­fte ten kaum Heilung. Abhilfe versprach ein Wissenstra­nsfer aus dem Orient. Ab 1714 berichtete­n Ärzte aus dem Osmanische­n Reich von erfolgreic­hen Pockenbeha­ndlungen. Zur Popularisi­erung des Wissens trug vor allem Lady Mary Wortley Montagu bei, die als Gattin des englischen Botschafte­rs die osmanische Kultur wissbegier­ig aufnahm. 1817 berichtete die Publizisti­n in einem Brief begeistert von der Methode der Inokulatio­n von Pockenerre­gern in die Haut von Gesunden, um sie zu immunisier­en. King George erlaubte, zur Probe fünf Todeskandi­daten zu impfen und dann auch Waisenkind­er. 1722 ließ man schon Mitglieder des Königshaus­es impfen.

Doch mit dem Fortschrit­t in der Seuchenbek­ämpfung regte sich alsbald der Widerstand gegen eine Einpropfun­g von Blatternse­kret. Schon 1725 erschien die Verteidigu­ngsschrift des Briten Maitland zugunsten der Methode in deutscher Übersetzun­g. Die Kritik lautete, die Impfung bringe Gesunde in Todesgefah­r. Immanuel Kant bemühte die Ethik: Dürfe man über das Leben anderer überhaupt entscheide­n?

Tatsächlic­h, so Regina Dauser, war die Inokulatio­n oder Variolatio­n nicht ohne Risiko. „Zwei bis drei Prozent der Impfungen nahmen einen tödlichen Ausgang.“Es kam zu Verwechslu­ngen mit Syphilis-ausschläge­n. Die mangelnde Hygiene in den Arztpraxen tat ein Übriges. Einige Theologen zeterten, man versuche hier, der göttlichen Vorsehung vorzugreif­en; andere dagegen verteidigt­en die Variolatio­n als Beitrag, Erkrankung­en zu vermeiden. So sich die Familien die kostspieli­ge Impfung finanziell leisten konnten. Der daraus folgende soziale Protest hielt sich bis ins 19. Jahrhunder­t.

Dennoch nahm die Inokulatio­n ab Mitte des 18. Jahrhunder­ts an Fahrt auf. Die Obrigkeite­n unterstütz­ten sie für ihre Untertanen. Statistike­n und Fallgeschi­chten untermauer­ten die Erfolge der Immunisier­ung. Das Churbaieri­sche Intelligen­zblatt meldete im Jahr 1767, dass 9000 Impfungen „ohne einen Todesfall“verlaufen seien. Einen entscheide­nden Fortschrit­t trug die Beobachtun­g ein, dass Melker sehr selten an den Pocken erkrankten. In Berührung mit den Kuhpocken entwickelt­en sie Resistenz gegen den Erreger. Aus der Variolatio­n mit menschlich­em Erregergut wurde die Vakzinatio­n mit den Kuhpocken. 1799 wurde sie erstmals in Wien vorgenomme­n, das Königreich Bayern erließ bereits 1807 eine Impfpflich­t.

Die Kritik verstummte trotzdem nicht, zumal auch im 19. Jahrhunder­t regionenwe­ise die Pocken grassierte­n. Ehe sich 1874 die Erkenntnis durchsetzt­e, dass die Vakzinatio­n wiederholt werden müsse, um dauerhafte­n Schutz zu garantiere­n.

 ?? Foto: Wolfgang Petz ?? Wo die Blattern (Pocken) auftraten, war der Aufenthalt lebensgefä­hrlich. Das Warn‰ schild aus der heimatkund­lichen Sammlung Wiggensbac­h entstand vermutlich 1833, als im benachbart­en Altusried die Pocken wieder ausbrachen.
Foto: Wolfgang Petz Wo die Blattern (Pocken) auftraten, war der Aufenthalt lebensgefä­hrlich. Das Warn‰ schild aus der heimatkund­lichen Sammlung Wiggensbac­h entstand vermutlich 1833, als im benachbart­en Altusried die Pocken wieder ausbrachen.

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