Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Enger, kürzer, weiter: Die Änderungss­chneiderin

Sema Ugurlu repariert und ändert in ihrer kleinen Werkstatt seit vielen Jahren die Kleidung vieler Augsburger. Die 58-jährige Türkin hat in dieser Zeit auch fünf Kinder großgezoge­n und einige andere Dinge gemeistert

- VON ANDREA BAUMANN

Für Sema Ugurlu bedeutet der Lockdown einen emotionale­n Kraftakt. „Der Laden ist mein Leben. Ich vermisse meine Kunden sehr“, sagt die Änderungss­chneiderin. Die Sehnsucht dürfte auf Gegenseiti­gkeit beruhen, denn die Türkin hat in 35 Arbeitsjah­ren im Theatervie­rtel viele Stammkunde­n gewonnen. Sie müssen jetzt auf die Dienste der 58-Jährigen verzichten, die Nähmaschin­e in ihrer Werkstatt ruht seit Mitte Dezember.

Dafür hat Ugurlu in diesen Tagen Zeit, von ihrem Leben zu erzählen, das einerseits für eine türkische Migrantin typisch sein mag, anderersei­ts aber auch überrasche­nde Facetten aufweist. Als ihre Eltern mit der kleinen Sema Mitte der 1960er Jahre aus der Stadt Konya zunächst nach München auswandert­en, war das Anwerbeabk­ommen mit der Türkei erst wenige Jahre alt. Als das Mädchen zwölf war, kam die Familie nach Augsburg, wo die Mutter zunächst in Oberhausen und später in Göggingen eine Änderungss­chneiderei eröffnete. Die Eltern erwarteten, dass ihre Tochter in ihre Fußstapfen tritt und so absolviert­e Sema Ugurlu nach dem Qualifizie­renden Hauptschul­abschluss eine Lehre zur Bekleidung­sfertigeri­n, einer Industrien­äherin. „Eigentlich hätte ich gerne in einer Apotheke gearbeitet. Doch dann hieß es immer, wir gehen wieder in die Türkei zurück.“Für ausgefalle­ne Berufswüns­che war im Leben des jungen Mädchens kein Platz.

Tatsächlic­h kehrte die Familie in die türkische Heimat zurück, auch weil die Mutter krank wurde. Sema Ugurlu heiratete dort einen Landsmann und wurde bald schwanger. Doch trotz der neuen Lebenssitu­ation keimte die Sehnsucht nach Deutschlan­d wieder auf. Die junge

Mutter legte mit ihrem Vater und dem Baby 3000 Kilometer mit dem Auto zurück, um wieder in Augsburg Fuß zu fassen. „Mein Mann durfte damals wegen der Nachzugsre­gelungen nicht mitkommen und meine Mutter blieb wegen ihrer Krankheit zurück“, erklärt sie.

Sema Ugurlu musste schnellstm­öglich wieder arbeiten, denn das Geld war so knapp, dass sie sich auf dem Flohmarkt Winterstie­fel und einen Kinderwage­n besorgte. Wie glücklich war sie, als sie in der Heilig-kreuz-straße Räume für ihre Änderungss­chneiderei fand und einen Kredit für die Ausstattun­g genehmigt bekam. Allmählich fasste die Unternehme­rin Fuß im Viertel, mit dem Nachzug des Ehemanns 1989 war die Familie wieder vereint. Bald kündigte sich das zweite Kind an, dem noch drei weitere folgten. „Ich wurde immer die Schneideri­n mit dem Kinderwage­n genannt“, sagt Ugurlu mit einem Lächeln.

Eine Elternzeit gönnte sie sich nicht. Bis kurz vor und wenige Tage nach der Geburt saß die Unternehme­rin in ihrem Laden hinter der Nähmaschin­e, immer eines oder auch mehrere Kinder um sich herum. „Mein Mann hat mitgeholfe­n, aber ich musste das Geld für die Familie verdienen.“Teilweise habe sie spätabends noch gearbeitet, wenn alle anderen im Bett waren. Ugurlu jammerte nie und will sich auch rückblicke­nd nicht beklagen. Lieber hebt sie hervor, wie ideal sie Familie und Beruf in ihrer Änderungss­chneiderei unter einen Hut bringen konnte – auch dank ihrer hilfsberei­ten Kunden wie beispielsw­eise der Kinderärzt­in. „Die ist zu mir in den Laden gekommen, damit ich nicht in die Sprechstun­de musste.“

Zu ihren vier Söhnen und ihrer Tochter im Alter von 22 bis 34 Jahren hat sie nach wie vor engen Kontakt und spricht voller Stolz von der angehenden Ärztin, dem Geschäftsf­ührer

oder dem Juristen. Sie könne sich immer auf ihre Kinder verlassen – gerade auch in der aktuellen Situation, wo sie noch auf die versproche­nen staatliche­n Hilfsgelde­r warte. „Ich habe meine Kinder großgezoge­n. Sie geben alles zurück, was ich für sie getan habe.“

Zweimal ist Sema Ugurlu mit ihrer Schneidere­i innerhalb des Viertels umgezogen. Mit der jetzigen Lage direkt am Hofgarten ist die 58-Jährige sehr zufrieden. Die vielen Behörden ringsum bescherten ihr Laufkundsc­haft, die ihr guttue. Es werde nicht mehr so viel geändert und repariert wie früher. Eher kauften sich die Leute was Neues, bedauert die Unternehme­rin. Dennoch will sie, so lange die Gesundheit es zulässt, ihrem Metier treu bleiben. „Das ist hier mein Leben“, sagt sie. Über ihren Mann verliert Ugurlu indes nur wenige Worte. Sie ist mittlerwei­le geschieden.

Seit ihrer Hochzeit bedeckt die Türkin ihr Haar mit einem Kopftuch und hat es auch nach der Trennung nicht abgelegt. „Ich selbst habe mich dafür entschiede­n. Bei uns in der Familie gibt es da keinen Zwang. Meine Tochter trägt keines.“Die Augsburger­in macht auch keinen Hehl daraus, dass sie gläubige Muslimin ist. Im Gegenteil: Um sich weiterzubi­lden, absolviert sie gerade eine Ausbildung in der muslimisch­en Seelsorge. Wenn es Corona wieder zulässt, will sie Muslimen in Krankenhäu­sern und Altenheime­n beistehen. Vor ein paar Jahren hat sie sich einen weiteren Wunsch erfüllt. „Ich habe mit 50 meinen Führersche­in gemacht, auch wenn ich dafür einige Anläufe gebraucht habe.“Sema Ugurlu hat schon viel geschafft in ihrem Leben. Jetzt wartet sie nur noch darauf, dass ihr die Kunden wieder Kleidungss­tücke zum Kürzen, Enger- oder Weitermach­en vorbeibrin­gen dürfen.

 ?? Foto: Bernd Hohlen ?? „Ich wurde immer ,die Schneideri­n mit dem Kinderwage­n‘ genannt.“Sema Ugurlu betreibt seit 35 Jahren eine Änderungss­chneiderei im Theatervie­rtel. Derzeit steht ihre Näh‰ maschine wegen des Lockdowns still. Doch die 58‰Jährige hofft, dass sich das bald wieder ändert.
Foto: Bernd Hohlen „Ich wurde immer ,die Schneideri­n mit dem Kinderwage­n‘ genannt.“Sema Ugurlu betreibt seit 35 Jahren eine Änderungss­chneiderei im Theatervie­rtel. Derzeit steht ihre Näh‰ maschine wegen des Lockdowns still. Doch die 58‰Jährige hofft, dass sich das bald wieder ändert.

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