Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Enger, kürzer, weiter: Die Änderungsschneiderin
Sema Ugurlu repariert und ändert in ihrer kleinen Werkstatt seit vielen Jahren die Kleidung vieler Augsburger. Die 58-jährige Türkin hat in dieser Zeit auch fünf Kinder großgezogen und einige andere Dinge gemeistert
Für Sema Ugurlu bedeutet der Lockdown einen emotionalen Kraftakt. „Der Laden ist mein Leben. Ich vermisse meine Kunden sehr“, sagt die Änderungsschneiderin. Die Sehnsucht dürfte auf Gegenseitigkeit beruhen, denn die Türkin hat in 35 Arbeitsjahren im Theaterviertel viele Stammkunden gewonnen. Sie müssen jetzt auf die Dienste der 58-Jährigen verzichten, die Nähmaschine in ihrer Werkstatt ruht seit Mitte Dezember.
Dafür hat Ugurlu in diesen Tagen Zeit, von ihrem Leben zu erzählen, das einerseits für eine türkische Migrantin typisch sein mag, andererseits aber auch überraschende Facetten aufweist. Als ihre Eltern mit der kleinen Sema Mitte der 1960er Jahre aus der Stadt Konya zunächst nach München auswanderten, war das Anwerbeabkommen mit der Türkei erst wenige Jahre alt. Als das Mädchen zwölf war, kam die Familie nach Augsburg, wo die Mutter zunächst in Oberhausen und später in Göggingen eine Änderungsschneiderei eröffnete. Die Eltern erwarteten, dass ihre Tochter in ihre Fußstapfen tritt und so absolvierte Sema Ugurlu nach dem Qualifizierenden Hauptschulabschluss eine Lehre zur Bekleidungsfertigerin, einer Industrienäherin. „Eigentlich hätte ich gerne in einer Apotheke gearbeitet. Doch dann hieß es immer, wir gehen wieder in die Türkei zurück.“Für ausgefallene Berufswünsche war im Leben des jungen Mädchens kein Platz.
Tatsächlich kehrte die Familie in die türkische Heimat zurück, auch weil die Mutter krank wurde. Sema Ugurlu heiratete dort einen Landsmann und wurde bald schwanger. Doch trotz der neuen Lebenssituation keimte die Sehnsucht nach Deutschland wieder auf. Die junge
Mutter legte mit ihrem Vater und dem Baby 3000 Kilometer mit dem Auto zurück, um wieder in Augsburg Fuß zu fassen. „Mein Mann durfte damals wegen der Nachzugsregelungen nicht mitkommen und meine Mutter blieb wegen ihrer Krankheit zurück“, erklärt sie.
Sema Ugurlu musste schnellstmöglich wieder arbeiten, denn das Geld war so knapp, dass sie sich auf dem Flohmarkt Winterstiefel und einen Kinderwagen besorgte. Wie glücklich war sie, als sie in der Heilig-kreuz-straße Räume für ihre Änderungsschneiderei fand und einen Kredit für die Ausstattung genehmigt bekam. Allmählich fasste die Unternehmerin Fuß im Viertel, mit dem Nachzug des Ehemanns 1989 war die Familie wieder vereint. Bald kündigte sich das zweite Kind an, dem noch drei weitere folgten. „Ich wurde immer die Schneiderin mit dem Kinderwagen genannt“, sagt Ugurlu mit einem Lächeln.
Eine Elternzeit gönnte sie sich nicht. Bis kurz vor und wenige Tage nach der Geburt saß die Unternehmerin in ihrem Laden hinter der Nähmaschine, immer eines oder auch mehrere Kinder um sich herum. „Mein Mann hat mitgeholfen, aber ich musste das Geld für die Familie verdienen.“Teilweise habe sie spätabends noch gearbeitet, wenn alle anderen im Bett waren. Ugurlu jammerte nie und will sich auch rückblickend nicht beklagen. Lieber hebt sie hervor, wie ideal sie Familie und Beruf in ihrer Änderungsschneiderei unter einen Hut bringen konnte – auch dank ihrer hilfsbereiten Kunden wie beispielsweise der Kinderärztin. „Die ist zu mir in den Laden gekommen, damit ich nicht in die Sprechstunde musste.“
Zu ihren vier Söhnen und ihrer Tochter im Alter von 22 bis 34 Jahren hat sie nach wie vor engen Kontakt und spricht voller Stolz von der angehenden Ärztin, dem Geschäftsführer
oder dem Juristen. Sie könne sich immer auf ihre Kinder verlassen – gerade auch in der aktuellen Situation, wo sie noch auf die versprochenen staatlichen Hilfsgelder warte. „Ich habe meine Kinder großgezogen. Sie geben alles zurück, was ich für sie getan habe.“
Zweimal ist Sema Ugurlu mit ihrer Schneiderei innerhalb des Viertels umgezogen. Mit der jetzigen Lage direkt am Hofgarten ist die 58-Jährige sehr zufrieden. Die vielen Behörden ringsum bescherten ihr Laufkundschaft, die ihr guttue. Es werde nicht mehr so viel geändert und repariert wie früher. Eher kauften sich die Leute was Neues, bedauert die Unternehmerin. Dennoch will sie, so lange die Gesundheit es zulässt, ihrem Metier treu bleiben. „Das ist hier mein Leben“, sagt sie. Über ihren Mann verliert Ugurlu indes nur wenige Worte. Sie ist mittlerweile geschieden.
Seit ihrer Hochzeit bedeckt die Türkin ihr Haar mit einem Kopftuch und hat es auch nach der Trennung nicht abgelegt. „Ich selbst habe mich dafür entschieden. Bei uns in der Familie gibt es da keinen Zwang. Meine Tochter trägt keines.“Die Augsburgerin macht auch keinen Hehl daraus, dass sie gläubige Muslimin ist. Im Gegenteil: Um sich weiterzubilden, absolviert sie gerade eine Ausbildung in der muslimischen Seelsorge. Wenn es Corona wieder zulässt, will sie Muslimen in Krankenhäusern und Altenheimen beistehen. Vor ein paar Jahren hat sie sich einen weiteren Wunsch erfüllt. „Ich habe mit 50 meinen Führerschein gemacht, auch wenn ich dafür einige Anläufe gebraucht habe.“Sema Ugurlu hat schon viel geschafft in ihrem Leben. Jetzt wartet sie nur noch darauf, dass ihr die Kunden wieder Kleidungsstücke zum Kürzen, Enger- oder Weitermachen vorbeibringen dürfen.