Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (31)
Silvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin.
Ich würde mich zwar nicht dazu herbeilassen, ihn in seinem Amt abzulösen, aber ihm zeigen, daß ich wohl weiß, was er bei dieser Gelegenheit getan hat, möchte ich doch.“
Kaum hat David Holm dies gedacht, als der Fuhrmann am Leitseil zieht und das Pferd anhält, ganz als seien ihm Davids Gedanken bekannt geworden.
„Ich bin nur ein elender Stümper von einem Fuhrmann,“sagt er. „Ab und zu gelingt es mir ja wohl, jemand zu helfen, aber ebenso oft mißlingt es. Diese beiden waren leicht über die Grenze zu befördern, weil sich die eine so innig nach dem Himmel sehnte und der andere so wenig hatte, was ihn an diese Welt fesselte. Weißt du, David,“fährt er fort und schlägt dabei rasch den alten kameradschaftlichen Ton an, „oft, wenn ich hier auf meinem Karren saß und hinausschaute, hab ich gedacht, wenn ich doch nur einen sicheren Boten hätte, durch den ich den Menschen
Botschaft zukommen lassen könnte, dann würde ich ihnen einen Gruß schicken.“
„Ja, das kann ich mir wohl denken,“versetzt David Holm.
„Weißt du, David,“fährt der Fuhrmann fort, „wenn auf dem Acker reife Frucht prangt, dann ist es nicht schwer, Schnitter zu sein; wenn aber ein Erntearbeiter aufs Feld hinausgehen und arme Gewächse niedermähen müßte, die kaum zu ihrer halben Höhe herangewachsen sind, so würde ihn das eine grausame Arbeit dünken. Der Herr nun, dem ich diene, ist sich auch viel zu gut für solche Arbeit, und darum überläßt er das alles mir armen Fuhrmann.“
„Ich sehe ein, daß es so sein muß,“sagt David Holm.
„Ach, wenn die Menschen nur wüßten, wie leicht es ist, denen über die Grenze zu helfen, die ihre Arbeit getan, ihre Pflicht erfüllt und ihre Fesseln schon fast durchgescheuert haben, wie schwer aber dagegen der zu befreien ist, der nichts Abgeschlossenes, nichts Vollendetes aufweisen kann, der alle, die er lieb hat, hinter sich zurücklassen muß, dann würden sie sich vielleicht Mühe geben, die Arbeit des armen Fuhrknechts zu erleichtern.“
„Wie meinst du das, Georg?“„Denk nur an eins, David! Seit du jetzt bei mir bist, hast du eigentlich immer nur von einer einzigen Krankheit reden hören, und ich kann dir versichern, daß dies bei mir das ganze Jahr hindurch so gewesen ist. Aber das kommt nur daher, weil sich diese Krankheit unter der unreifen Saat ausbreitet, und meine Aufgabe ist es, die Saat, die vor der Reife fallen muß, einzuheimsen. Ach, wenn doch nur diese Krankheit aus der Welt geschafft wäre, dann wäre meine Arbeit nicht so schwer.“
„Ist das die Botschaft, die du den Menschen schicken möchtest, Georg?“
„Nein, David. Jetzt weiß ich besser als früher, was die Menschen ausrichten können, und sie werden sich in absehbarer Zeit durch ihre Kenntnisse und ihre Ausdauer von dieser Krankheit befreien. Sie werden nicht ruhen, bis sie sich von dieser und von allen den anderen volksverheerenden Krankheiten frei gemacht haben. Nein, daran hängt die Sache nicht.“
„Wie könnten sie denn die Arbeit des Fuhrmanns erleichtern?“
„Die Menschen sind überaus mächtig,“antwortet Georg, „und deshalb glaube ich, daß der Tag kommen wird, wo man von Armut und Trunksucht oder allem dem Elend, das das Leben verkürzt, nichts mehr weiß. Aber es ist nicht gesagt, daß die Arbeit des Fuhrmanns dadurch weniger mühselig sein wird.“
„Aber wie lautet denn dann die Botschaft, die du den Menschen schicken möchtest, Georg?“
„Der Neujahrsmorgen bricht bald an, David, und wenn die Menschen nun erwachen, denken sie zuerst an das neue Jahr und an alles, was es ihnen an Wünschen und Hoffnungen erfüllen soll, und dann denken sie an die Zukunft. Aber da möchte ich ihnen sagen können, sie sollen sich nicht Liebesglück oder Erfolg oder Reichtum oder Macht oder ein langes Leben, ja nicht einmal Gesundheit wünschen; ich möchte, daß sie ihre Hände falteten und ihre Gedanken in dem einen Gebet vereinigten:
,Gott, großer Gott, laß meine Seele zur Reife kommen, ehe sie geerntet wird!‘“
Zwei Frauen sitzen in eine ernste
Unterhaltung vertieft, die schon stundenlang gedauert hat, beisammen. Das Gespräch war gegen Abend eine Weile unterbrochen worden, weil beide in einem Saal der Heilsarmee dem Gottesdienst anwohnten, aber danach ist es wieder aufgenommen worden. Die ganze Zeit über hat die eine der Frauen sich angestrengt, bei der anderen Mut und Vertrauen zu erwecken; aber es sieht aus, als sei sie noch weit von ihrem Ziel entfernt.
„Wissen Sie, Frau Holm,“sagt die, die es versucht, die andere zu trösten und aufzumuntern, „so sonderbar es auch lauten mag, so glaube ich doch, daß Sie es von jetzt an besser bekommen werden. Ich glaube, jetzt hat er sein Schlimmstes getan. Er hatte sich es wohl vorgenommen, um die Rache zu befriedigen, mit der er Ihnen seit Ihrer Wiedervereinigung immerfort gedroht hatte. Aber sehen Sie, Frau Holm, es ist eine Sache für sich, sich an einem Tag hart zu machen und zu sagen, die Kinder dürfen nicht fortgenommen werden; aber etwas anderes ist es, mit so einem Mordgedanken im Herzen umherzugehen und ihn Tag für Tag durchzuführen, und ich glaube nicht, daß das jemand auf die Dauer aushalten könnte.“
„Es ist sehr gut von Ihnen, Hauptmännin, daß Sie mich zu trösten versuchen,“sagt Frau
Holm.
Aber die Hauptmännin merkt wohl, was die arme Frau dabei denkt. Sie denkt: ,Wenn die Hauptmännin der Heilsarmee auch niemand kennt, der so etwas aushalten könnte, so kenne ich einen, der es kann.‘
Die Hauptmännin sieht aus, als sei sie nun fast an der Grenze ihrer Überredungskunst angekommen, aber rasch beschließt sie, noch einen Versuch zu machen.
„Und nun will ich Ihnen noch etwas sagen, Frau Holm,“sagt sie. „Ich weiß nicht, ob es eine so große Sünde gewesen ist, als sie Ihren Mann vor ein paar Jahren verlassen haben, aber ich erkenne, es war eine Versäumnis. Damals haben Sie ihn preisgegeben, und die bösen Folgen zeigten sich rasch. Aber jetzt haben Sie es wieder gut zu machen versucht; da haben Sie getan, was Gottes Willen von Ihnen forderte, und deshalb glaube ich, daß nun eine Wendung zum Bessern eintreten wird. Ein starker Sturm war erregt worden, und der konnte nicht mit einem Schlag wieder beruhigt werden; aber was Sie, Frau Holm, und Schwester Edith angefangen haben, ist trotz allem ein Werk von guter Art, das die Früchte der guten Werke tragen wird.“