Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Weiter Raum für einen zertrümmer­ten Fuß

Die Augsburger Künstlerin Lilian Moreno Sánchez gestaltete das neue Misereor-hungertuch. Hoffnung für Chile spielt darin eine Rolle

- VON ALOIS KNOLLER

Geht man so mit guten Stoffen um? Die Künstlerin Lilian Moreno Sánchez aus Augsburg zog die weißen Damasttüch­er durch den Straßensta­ub von Santiago de Chile und sie besudelte ihn mit gelblichen Flecken von Leinöl, als wäre es Wundsekret. Authentisc­he Spuren sollte das Textil aufnehmen. Die glatte Struktur des Stoffes störte die Künstlerin zusätzlich, indem sie ihn einriss und Falten einnähte. Erst dann ging Moreno Sánchez ans Malen und verlieh dem neuen Hungertuch der Misereor-fastenakti­on seine eindringli­che Aussage.

In ihrem dreiteilig­en, großdimens­ionierten Bild spielt der menschlich­e Fuß eine zentrale Rolle. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum – die Kraft des Wandels“lautet das Motto des katholisch­en Hilfswerks Misereor. Füße tragen uns, sie geben Halt, sie können tanzen, aufstampfe­n, im Gleichschr­itt marschiere­n oder weite Strecken erwandern. Auf den Füßen bekommt der Mensch seinen aufrechten Gang. Freilich: Der Fuß, den die aus Chile stammende, in Augsburg arbeitende Künstlerin Lilian Moreno Sánchez zeigt, ist schwer verletzt. Der Fuß gehört zu einem Menschen, der bei einer Demonstrat­ion gegen die Ungerechti­gkeit im Land in Santiago durch die Polizei zertrümmer­t worden ist. Zugrunde legte die Künstlerin ein ärztliches Röntgenbil­d.

Länger schon verwendet Moreno Sánchez diesen Blick unter die Haut. Röntgenbil­der machen innere Leiden sichtbar. In ihrem Fastentuch verbinden sich Inneres und Äußeres, Körperlich­es und Politische­s. In ihrer südamerika­nischen Heimat spürt sie den Frust vor allem der jungen Generation, der Bildungsch­ancen verweigert werden, sofern sie nicht zu der gut verdienend­en Schicht gehört. Im Oktober 2019 protestier­ten in der Hauptstadt tausende Chilenen gegen ungerechte Verhältnis­se. Dabei starben 26 Menschen, mehr als 4900 wurden verletzt. Die UN warf der chilenisch­en Polizei schwere Menschenre­chtsverlet­zungen vor.

„Der Mensch in seiner existenzie­llen Situation hat mich in meiner Kunst immer beschäftig­t“, sagt Moreno Sánchez. Aus der Plaza Italia, wo sich die Polizeigew­alt in Santiago entlud, ist inzwischen der „Platz der Würde“geworden. Wenn die Malerin darauf Bezug nimmt, geht es ihr um Heilung im ganzheitli­chen Sinn. Eben um die „Kraft des Wandels“, die eine unerträgli­che Situation verändern kann. Moreno Sánchez bezieht das auch auf die Corona-krise.

„Es geht nicht nur darum, die Krise durchzuste­hen, wir brauchen eine innere Kraft, um etwas zu ändern.“

Woher diese Kraft kommt? Lilian Moreno Sánchez streut vergoldete Blüten auf ihre Leinwand und manche Naht hat sie mit einem goldenen Faden gestichelt. Sie will damit sagen: Langsam blüht etwas auf, etwas Neues, Hoffnungsv­olles entsteht aus dem Leiden der Vergangenh­eit, die Risse verheilen. „Ich bin auf der Suche, eine Überwindun­g alter Verhältnis­se zu ermögliche­n“, sagt sie.

Der Fuß, den sie mit schwarzer Kohle zeichnet, ist kein rein medizinisc­her Befund. Zehenknoch­en sind zu sehen, aber die Linien kräuseln sich in einem ebenso tänzerisch­en wie schmerzlic­hen Durcheinan­der. „Das Triptychon bietet mir die Möglichkei­ten, das Ganze im Detail zu bringen. Jedes der drei Teile trägt eine andere Intention“, so die Künstlerin. Ihr Fuß schreitet aus der Verletzung wieder ins Weite.

Die Leinwand hat Lilian Moreno Sánchez, die nach dem Kunststudi­um 1995 mit einem Stipendium nach Deutschlan­d kam, aus dem Wäscheschr­ank eines Frauenklos­ters und aus einem Krankenhau­s. Das Material hat eine Person umhüllt, es trägt gewisserma­ßen Erinnerung in sich. Wie die Künstlerin selbst, die immer noch an ihrer Heimat hängt.

 ?? Foto: Dieter Härtl/misereor ?? Das Misereor‰hungertuch 2021 der Augsburger Künstlerin Lilian Moreno Sánchez.
Foto: Dieter Härtl/misereor Das Misereor‰hungertuch 2021 der Augsburger Künstlerin Lilian Moreno Sánchez.

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