Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Politik tappt in ihre eigene Corona-falle
Das ewige „Auf-sicht-fahren“zwischen Lockdown und Lockern wird immer riskanter. Rächt sich einmal mehr, dass Deutschland sich in falscher Sicherheit wiegt?
Auf Sicht fahren“nennen Kanzlerin Angela Merkel und viele Ministerpräsidenten ihre Art, inder Corona-pandemie kurzfristig und flexibel Politik zu machen. Für Autofahrer mag sich das Sprachbild noch einigermaßen beruhigend anhören, wenn man nicht weiß, was als Nächstes um die Kurve kommt. Denkt man an eine Fahrt auf hoher See in stürmischen Krisengewässern, wird einem schon mulmiger. Denn tatsächlich fehlt der Bundespolitik auch nach einem Jahr Pandemie offensichtlich ein klarer Kompass: Man lässt den Dampfer in der Hoffnung treiben, bald in ruhigeres Fahrwasser zu kommen.
Doch das Prinzip „auf Sicht fahren“hat sich bereits mehrfach gerächt: Kam in der ersten Welle noch der Staatsanwalt bei einem Dutzend Todesfällen in einem Seniorenheim,
war dies im Winter maximal ein Thema für die Randspalte. Dass die Bundesrepublik in der zweiten Welle zeitweise mehr Corona-tote pro Einwohner als Schweden und die USA zählte, zeigt, wie wenig erfolgreich das Pandemie-management war. Noch höher waren die Sterbezahlen in Irland und Großbritannien – eine Warnung an alle, die „britische“Virusmutation noch immer zu unterschätzen.
In Irland und Großbritannien laufen die Massenimpfungen deshalb als Rennen gegen die Zeit. In Deutschland nimmt dagegen alles, wie in Arbeitskreisen geregelt, so geordnet wie gemächlich seinen Gang. Das „Auf-sicht-fahren“vermittelt dabei ein trügerisches Gefühl vermeintlicher Sicherheit.
Bund und Länder verließen sich darauf, dass Massenimpfungen im Sommer das Corona-problem schon lösen werden und zuvor ein milder Frühling wie in der ersten Welle die Lage entspannt. Die um die Kurve gekommene Virusmutation hat die Auf-sicht-fahrer überrascht – trotz zahlreicher Warnschilder, die es seit dem Ausbruch in Irland gab.
Es rächt sich spätestens jetzt, dass im falschen Sicherheitsgefühl n ebender Impfst rategiekeinz weites Sicherheitsnetz eingezogen wurde: Zum Beispiel mit bundesweit symptomlosen Pcr-tests, massenhaften Schnelltests, digitaler Hochrüstung der Gesundheitsämter oder Apps mit automatischer Kontakt verfolgung, die eine Öffnung der Läden und Gastronomie erleichtern würden. In all diesen Punkten läuft die Politik der Entwicklung weit hinterher. Vom Im pro visat ions drama um den Schulunterricht ganz zu schweigen.
Eine von vielen Kritikern geforderte große„ Strategie“dürfte angesichts vieler sich ändernder Herausforderungen zwar zu viel verlangt sein. Erwarten dürfen die Bürger aber, dass sich die verantwortlichen Stellen parallel auf verschiedenen Ebenen au falle absehbaren Eventualitäten vorbereiten. Mit Appellen an die Eigenverantwortung lässt sich keine Pandemie stoppen.
Stattdessen unterschätzen viele Verantwortliche das Coronavirus und seine Mutationen noch immer. Politiker rufen nun wie im Sommer in den Ländern nachdem Prinzip Hoffnung einen Lockerungs wettbewerb aus, ohne dafür rechtzeitig das notwendige zweite Sicherheitsnetz neben den Impfungen aufgespannt zu haben. Und man kann für die bereits geimpften Hoch risiko gruppen nur hoffen, dass die wenigen Wochen seit den Spritzen für den Aufbau von genug Immunschutz ausreichen.
Fast alle Parteien, die in Bund und Ländern in Regierungs verantwortung sind, drohen ein weiteres Mal in die Falle ihrer eigenen Corona-politik aus Lockdowns und Lockerungen zu tappen: Sie schüren große Erwartungen und stehen am Ende wieder unvorbereitet da. Angesichts von Mutationen und vielerunt erlassener Schutz möglichkeiten ist dieser Kurs riskanter denn je. Auf Sicht regiert in Deutschland das Prinzip Hoffnung.
Wieder stehen die Verantwortlichen unvorbereitet da