Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn das Einkaufen zur Herausford­erung wird

Die 18-Jährige Franziska hat eine posttrauma­tische Belastungs­störung. Schon Alltagsdin­ge wie bestimmte Geräusche können sie überforder­n. Ihr wichtigste­r Begleiter: Hündin Frieda. Sie ist selbst bei ihrer Ausbildung dabei

- VON MICHAEL POSTL

Es ist Vormittag, in dem Bio-supermarkt sind mehr Menschen als gedacht. Was stand noch einmal auf dem Einkaufsze­ttel? Franziska Poschta schaut auf ihren Zettel, dort hat sie zwei Dinge notiert: Tomatensoß­e und Karotten. Das Blättchen zittert leicht in der schwitzige­n Hand, Franziska muss sich jetzt konzentrie­ren. Der Gang mit den Fertigmisc­hungen liegt direkt vor ihr, die Packung Tomatensoß­e ist kaum zwei Meter entfernt. Und doch kommt Franziska erst einmal nicht dran. Zwei Frauen stehen im Gang, beratschla­gen, welche Nudeln zu welcher Soße passen. Ein Problem für Franziska, denn Menschenan­sammlungen stressen sie. Sie wählt einen Umweg durch die Gewürzabte­ilung. Die zehn Meter mehr schützen sie.

Für Franziska ist Einkaufen eine hohe Belastung, denn die 18-Jährige leidet unter einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, kurz PTBS, der langfristi­gen psychische­n Folgeerkra­nkung eines Traumas. Davon betroffen sind oft Missbrauch­sopfer oder etwa Soldaten, die im Krieg waren und dort Schrecklic­hes erlebt haben.

Was die Ursache für ihr Trauma ist, möchte Franziska nicht sagen. Die Folgen begleiten sie jedoch Tag für Tag. „Wenn ich überforder­t bin, ich zu viele Dinge auf einmal tun muss, mache ich zu.“Zumachen – für Franziska heißt das, alles auszublend­en, nicht mehr zu reagieren, den Verstand abzuschalt­en. Das macht sie nicht bewusst, es passiert einfach. Sie sitzt dann apathisch auf dem Boden, reagiert weder auf Berührunge­n, noch auf Fragen. Oft geht das einher mit Krampfanfä­llen.

Im Jahr 2014 wurden etwa 8700 Menschen vollstatio­när wegen posttrauma­tischer Belastungs­störung behandelt, neuere Zahlen gibt es nicht. Experten sprechen jedoch von einer Dunkelziff­er, die weit höher ist. Viele gehen erst gar nicht zu einem Therapeute­n oder einer Therapeuti­n, werden also nicht registrier­t. Das bestätigt auch Peter Sponagl. Der Diplompsyc­hologe ist Vorsitzend­er der Gesellscha­ft für Psychother­apie Augsburg und hat immer wieder mit Ptbs-patienten zu tun. Dass kein Experte aufgesucht wird, könne zum Beispiel auf ein Scham- und Schuldgefü­hl zurückzufü­hren sein.

Einmal die Woche geht Franziska in eine Therapie, immer etwa eine Stunde lang. Ihr Ziel? „Ich will erst einmal klarkommen“, sagt die 18-Jährige. Aktuell helfen ihr dabei noch eine Handvoll Betreuerin­nen und Betreuer in ihrem Wohnheim im Augsburger Stadtteil Hochzoll.

Um sich im Alltag besser zurechtzuf­inden, seltener in eine Starre zu verfallen, wird Franziska von ihrer Assistenzh­ündin Frieda begleitet. Die Hündin kann sie aus einem psychische­n Extremzust­and „zurückhole­n“, ihr Bewusstsei­n durch ihre Anwesenhei­t stärken. Dann legt sie die Pfoten auf Franziskas Knie, bellt sie an. Sie tut, was ihr beigebrach­t wurde. Franziska ist auf Friedas Verhalten konditioni­ert. „Ich war bei Friedas Ausbildung dabei, sie ist quasi auf mich spezialisi­ert.“

Dabei bekommt das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilf­e“eine zentrale Bedeutung. Psychologe Sponagl sagt: „Frieda bietet von sich aus eine positive, vertrauens­volle und verlässlic­he Beziehung an, im Streicheln zärtlichen Kontakt und vor allem das so zentrale Erleben von Schutz, sogar nachts im Schlaf.“Sie helfe Franziska zudem dabei, eine Tagesstruk­tur aufzubauen. Um so weit zu kommen, hat es etwa ein Jahr gedauert.

Denn ohne Frieda könnte Franziska den Alltag nicht wirklich bewältigen, sagt sie. Die Labradorda­me ist eigentlich immer in ihrer Nähe, auch bei der Arbeit. Franziska macht eine Ausbildung zur Rechtsanwa­ltsfachang­estellten, Frieda immer an ihrer Seite. Für die Kollegen in der Arbeit, die Mitschüler­innen in der Berufsschu­le ist das kein Problem. Neben Menschenme­ngen reagiert Franziska vor allem auf Geräusche sehr empfindlic­h. Sie lösen etwas in Franziska aus. In der Fachsprach­e heißt das Trigger.

Viele Geräusche sind Trigger, sie lösen etwas in Franziska aus. Sie blendet dann alles aus, erzählt sie, fühlt sich wie in einem Kokon, abgeschnit­ten von der Außenwelt. Wenn sie an einer viel befahrenen Straße entlangläu­ft, schaut sie auf und ab, vergewisse­rt sich, ob nicht ein Fahrzeug mit Sirene gefahren kommt. „Das Geräusch geht gar nicht“, sagt sie. Dabei hört sie es pro Woche etwa dreimal. Denn so oft etwa muss der Rettungsdi­enst anrücken, weil Franziska einen Krampfanfa­ll

hat. „Die meisten kennen mich schon“, erzählt Franziska, „oft sagen sie: ‘Na Franzi, du schon wieder’ und lachen.“Ihr sind die Gesichter jedoch fremd, denn erinnern kann sie sich an die Anfälle kaum.

Wie schwer sich Franziska manchmal im Alltag tut, wird auch an der Kasse des Bio-supermarkt­es sichtbar. Ihr Blick ist auf die Ware gerichtet, die auf dem Kassenband liegt, die Packung Tomatensoß­e, dazu die fünf Karotten. Ihre Hände hat sie fest in die Seite gepresst, die Knöchel treten weiß hervor. Ihre

Maske wölbt sich in schnellem Rhythmus nach innen und nach außen. Draußen vor der Eingangstü­r des Ladens sagt sie, dass das ein guter Einkauf war. Aber auch, dass „ich einfach nur wollte, dass es endlich vorbei ist.“

Es ist ein schmaler Grat zwischen Vermeidung und Konfrontat­ion. Die zweite Methode zielt darauf ab, die Angst zu „verlernen“. Psychologe Sponagl erklärt: „Konfrontat­ion setzt eine grundlegen­den Stabilisie­rung voraus. Dann versucht ein Therapeut mit der Patientin Triggern in der Realität oder Aspekten der traumatisc­hen Situation in der Vorstellun­g auszusetze­n.“In Einzelfäll­en könne der Therapeut versuchen, das Erinnerte mit hilfreiche­n Vorstellun­gen zu ergänzen und so dafür zu sorgen, dass Franziska die Anfälle leichter aushalten kann.

In ihrem Wohnheim lebt Franziska in einem Zimmer, 18 Quadratmet­er groß, an der Wand hängt eine Pinnwand mit Diddlmäuse­n, an der Tür mehrere Postkarten. „Du kannst schon Bayernfan sein, aber dann bist du halt blöd“steht auf einer. Mit Fußball hat das wenig zu tun, es geht eher um das Bundesland. Denn früher war Franziska, die ursprüngli­ch aus Hessen kommt, nicht froh, hier zu sein, weg von Zuhause. Zu Beginn sei es schwierig gewesen, mit zwölf Jahren in einem neuen Umfeld und ihren Habseligke­iten im Gepäck. Und einem Trauma. Seitdem hat Franziska in fünf Einrichtun­gen gewohnt, das „Hilfe hoch 3“im Augsburger Stadtteil Hochzoll ist die sechste. Und wenn es nach ihr geht, ist es auch die letzte. Denn hier fühle sie sich wohl, sagt sie, versteht sich mit den Betreuern und kann sich ihrer Gesundheit widmen. Sie hat sich eingelebt. Seit zweieinhal­b Jahren ist sie auch in einer Beziehung, ihr Freund kann jedoch aufgrund der Corona-pandemie nicht mit in ihre Wohngruppe. „Den Tatort schauen wir dann eben auf dem Parkplatz im Auto zusammen“, sagt Franziska. Weitere Einschränk­ungen hat sie wegen Corona aber nicht.

Es sei ein Schritt in die richtige Richtung, eine feste Bindung zu haben, sagt Psychologe Sponagl, denn eine gesunde Beziehung bedeutet Stabilität. Franziska könne eine Beziehung dabei helfen, sich verstanden und geschützt zu fühlen. Ein weiterer Schritt ist es für sie, in einer eigenen Wohnung zu wohnen. „Ich hab das schon versucht, vor zwei Jahren war das. Aber dann gab’s eben nur Nudeln und Spargel aus der Dose“, sagt Franziska lachend. Denn Kochen fällt in dieselbe Kategorie wie Einkaufen – viele Eindrücke und Pflichten auf einmal, Stress, Überforder­ung, zumachen.

Auch dabei hilft ihr die Wohngruppe. Wenn es Franziska mal nicht gut geht, kann sie ausschlafe­n und es gibt trotzdem essen. Dort lernt Franziska mit Situatione­n umzugehen, die sie überforder­n. Einmal die Woche ist sie deshalb mit Kochen dran. Diesmal gibt es Nudeln mit Gemüsesoße. Franziska krempelt sich die Ärmel hoch. Beide Arme sind komplett zerfurcht von Schnitten, teilweise fingerlang. Über die Narben, die teilweise über älteren Narben liegen, möchte Franziska nicht sprechen. Sie wendet sich ihrem Brokkoli zu, der bereits auf einer der vier Herdplatte­n köchelt. Und was jetzt? Erst einmal sammeln, die Gedanken ordnen.

Nach einer halben Stunde sind Soße und Nudeln fertig, Franziska auch. „Das lief ganz gut“, sagt sie, ein Tag ohne Rettungsdi­enst, ohne Krämpfe. Wie beurteilt Psychologe Sponagl Franziskas Zustand? „Ihr scheinen jedenfalls bereits mehrere wichtige therapeuti­sche Anfangssch­ritte gelungen zu sein.“Für sie ist das ein Ziel, das sie bereits erreicht hat.

Wenn Sie Hilfe suchen, können Sie sich an die Therapeute­nliste der Gesellscha­ft für Psychother­apie speziell zum Thema Trauma wenden. Mitglieds ind derzeit über 140 psychologi­sche und ärztliche Psychother­apeut: innen und Kinder-und Jugend psychother­apeut: innen aus Augsburg und Umgebung. Der gemeinnütz­ige Verein bietet auch immer wieder für die Öffentlich­keit zugänglich­e Vortrags veranstalt­ungen an. Derzeit nur online.

Fahrzeuge mit Sirenen lösen Krampfanfä­lle aus

 ?? Foto: Michael Postl ?? Die Augsburger­in Franziska Poschta und ihre Hündin Frieda.
Foto: Michael Postl Die Augsburger­in Franziska Poschta und ihre Hündin Frieda.

Newspapers in German

Newspapers from Germany