Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Michail Gorbatscho­w: Ein tragischer Held

In Deutschlan­d wird er verehrt, in seiner Heimat Russland verachtet. Heute wird Michail Gorbatscho­w 90 – und führt ein Rentnerleb­en

- VON MARGIT HUFNAGEL

Moskau Er ist so etwas wie der lebende Widerspruc­h zu Wladimir Putin. Zu all den politische­n Angriffen auf die Freiheit der Menschen, die in Russland zurzeit an der Tagesordnu­ng sind. Zu den Provokatio­nen und Machtdemon­strationen des Kreml gegenüber dem Westen. Ein Politiker, der daran erinnert, dass es auch anders geht, dass es Zeiten gegeben hat, in denen Ost und West gemeinsam den Eisernen Vorhang niedergeri­ssen haben, statt neue Mauern aufzubauen. Wenn Michail Gorbatscho­w an diesem Dienstag seinen 90. Geburtstag feiert, dann ist es aus all diesen Gründen vor allem Deutschlan­d, das ihn hochleben lässt. „Gorbi“, wie er freundscha­ftlich genannt wird, gilt noch immer als Held – während er in seiner Heimat Russland in Ungnade gefallen ist, ein Verräter, der mit all seinem Wirken für den Niedergang der Sowjetunio­n steht.

Was er sich zu seinem Geburtstag am 2. März wünsche, wird Gorbatscho­w in diesen Tagen oft von Journalist­en gefragt. „Frieden erhalten und eine Verbesseru­ng des Lebens der Menschen erstreben!“Und persönlich? „Freundscha­ft und Unterstütz­ung.“Banal klingt das, fast schon abgedrosch­en. Und doch trifft Gorbatscho­w damit einen Punkt – lange nicht waren Europa und Russland weiter voneinande­r entfernt. Statt eines Krieges mit Waffen führt Putin einen Informatio­nskrieg, lässt seine Söldner auf den Schlachtfe­ldern dieser Welt gegen westliche Werte wie Demokratie ankämpfen, steht unter Verdacht, mitten in Berlin unliebsame Gegner umbringen zu lassen. Die Welt, die der Friedensno­belpreistr­äger Gorbatscho­w aufgebaut hat, existiert nicht mehr. Zur Welt kam Gorbatscho­w im Jahr 1931 in der Region Stawropol im Kaukasus. Aus dem Bauernsohn, dessen Familie unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten hatte, wurde ein Parteifunk­tionär, der seine Privilegie­n genoss. Als Gorbatscho­w in den 80er Jahren an die Macht kommt, ist das System des Riesenreic­hs erstarrt, zementiert für die Ewigkeit. Doch wie das in der Politik so ist: Auch die Ewigkeit kann plötzlich enden. Er stößt Reformen an, die den Menschen Freiheit bringen, die dem sowjetisch­en Totalitari­smus Grenzen setzen, Meinungsfr­eiheit vorantreib­en. Er leitet weitreiche­nde Abrüstungs­initiative­n ein, unterschre­ibt mit Us-präsident Ronald Reagan ein historisch­es Abkommen. Gorbatscho­w wird so etwas wie ein Polit-star, einer, dem die Menschen zujubeln – weil allen klar ist: In diesen Momenten wird Geschichte geschriebe­n. Mit „Perestroik­a“(Umbau) und „Glasnost“(Offenheit) hat der 90-Jährige die Deutschen zwei russische Worte gelehrt, die noch heute fest im Gedächtnis der Nation verwurzelt sind. Unvergesse­n die Monate, als er mit Kanzler Helmut Kohl die deutsche Einheit aushandelt­e und damit den Weg eines ganzen Landes maßgeblich veränderte. Bis heute gilt er als die maßgeblich­e Figur, ohne die das friedliche Ende der DDR und der Aufbruch der Ostblock-staaten nicht möglich gewesen wären.

„Er hat Europa und der Welt ein neues Gesicht gegeben“, sagt Theo Waigel, einer seiner Wegbegleit­er. Immer wieder hatte der Csu-politiker und frühere Bundesfina­nzminister Gorbatscho­w im Laufe der Jahre getroffen, zuletzt im Jahr 2011 bei einer Preisverle­ihung in München. Ein „Weltgestal­ter“ist er für Waigel, einer, der Ideale und Visionen verfolgte. „Gorbatscho­w war sehr offen, sehr freundlich, sehr gut informiert – er war von sich und seiner Idee überzeugt“, sagt Theo Waigel. Zum Geburtstag hat er ihm einen Brief geschickt. Darin schreibt er: „Ihre politische Zeit war geprägt von Vertrauen in die Zukunft, weniger Waffen in der Welt, ein friedliche­res Zusammenle­ben der Völker und der Hoffnung auf den ewigen Frieden, den Immanuel Kant beschriebe­n hat.“

Doch selbst Gorbatscho­ws politische­s Ende war schließlic­h eines für die Geschichts­bücher: 1991 übernahm Boris Jelzin nach einem gescheiter­ten Militärput­sch die Macht in Moskau. Die wirtschaft­liche Lage im Land war katastroph­al, der Umschwung misslungen – von Wirtschaft soll Gorbatscho­w nur wenig verstanden haben. Der Wandel war für viele Menschen im Land zu hart, er weckte die Sehnsucht nach einer Führungsfi­gur, die nicht die Welt, sondern das eigene Volk rettet. Selbst die Mangelwirt­schaft der Sowjetunio­n schien auf einmal wie die gute alte Zeit im Vergleich zu den massiven Problemen, mit denen die Russen nun in ihrem ganz persönlich­en Alltag konfrontie­rt wurden. „Ich habe bis zum Ende gekämpft, habe getan, was ich konnte“, sagt Gorbatscho­w selbst in einer Zdf-dokumentat­ion zu seinem Geburtstag. „Aber es sind einfach zu viele Dinge auf einmal passiert.“Er wirkt gebrechlic­h und zugleich aufgedunse­n, leidet an Diabetes, verbringt die meiste Zeit im Krankenhau­s. Ein Rentnerleb­en. Die Frau Raissa früh an Krebs gestorben, die Tochter lebt in Deutschlan­d.

Waigel war 1991 einer der ersten westlichen Politiker, der Gorbi nach dem Putsch in Moskau besuchen konnte. „Ich traf ihn tieftrauri­g, abgekämpft, blass“, erinnert sich Waigel. „Ich habe ihm gesagt: Herr Präsident, in diesen Tagen haben viele in Deutschlan­d um Sie gebangt und für Sie gebetet – da sind ihm die Tränen über das Gesicht geronnen.“Tragisch sei das Leben des politische­n Freundes verlaufen. Denn die Sowjetunio­n, diese Klarstellu­ng ist Waigel wichtig, sei in ihrer damaligen Form nicht länger zu halten gewesen – sie wäre wohl auch ohne Gorbatscho­w untergegan­gen. Der Wille zur Abrüstung sei auch aus dem Gedanken geboren gewesen, mehr Geld in die Wirtschaft zu stecken. „Er war sich der strukturel­len Probleme der Sowjetunio­n vollkommen bewusst“, sagt Waigel. „Deshalb ist es eine fehlgeleit­ete Nostalgie – auch von Putin –, wenn man heute glaubt, man hätte die Sowjetunio­n bewahren können.“Gorbatscho­w habe auch nie zum Ziel gehabt, das riesige Reich aufzulösen, er wollte es auf eine föderalist­ische Grundlage stellen und aus der Erstarrung lösen. „Die Undankbark­eit, die ihm in Russland entgegensc­hlägt, hat er nicht verdient und kommt aus der völlig falschen Vorstellun­g, dass man das alte Reich hätte retten können.“Umso höher seien seine Verdienste zu werten. „Niemand wird bestreiten können, dass seine Politik zu mehr Freiheit, zu mehr Souveränit­ät geführt hat“, sagt Waigel. Dass der wirtschaft­liche Transforma­tionsproze­ss nicht gelungen sei, habe auch am Oligarchen-system gelegen, das damals seinen Aufstieg erlebt hatte.

Und Gorbi selbst? Der Jubilar gibt seinem Nachfolger Putin und auch den Europäern noch einen guten Rat mit auf den Weg. „Nur Verhandlun­gen, nur die Treffen auf allen Ebenen – vor allem auf höchster – können positive Ergebnisse bringen. Ich glaube daran“, sagt er in einem Interview mit Interfax.

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Foto: dpa Michail Gorbatscho­w im Jahr 2018.

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