Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Unter Beobachtun­g

- VON FLORIAN EISELE

Wegen der Corona-pandemie findet die Bundesliga seit knapp einem Jahr im Geisterspi­el-modus statt. Dennoch gab es in dieser Zeit über 1000 Neueintrag­ungen in die „Datei Gewalttäte­r Sport“, in der das Bundeskrim­inalamt Daten über Sportfans sammelt. Wie kann das sein?

Augsburg Wann genau er erfahren hat, dass die Polizei und das Innenminis­terium über ihn eine Akte führen? Michael* weiß es nicht mehr genau. Aber irgendwann im ersten Zweitligaj­ahr des FC Augsburg nach dem Wiederaufs­tieg muss es gewesen sein, also in der Saison 2006/2007. Beim Einlass in das Rosenausta­dion, wo der FCA damals noch seine Spiele austrug, teilte ihm ein Polizist mit, dass er von nun an in der „Datei Gewalttäte­r Sport“aufgeführt sei. Michael erinnert sich: „Mit dabei waren eine Handvoll anderer Fans, alle Angehörige der aktiven Fanszene des FCA. Diese Eintragung war nicht anlassbezo­gen und ich hatte zum damaligen Zeitpunkt wie auch heute noch ein eintragsfr­eies polizeilic­hes Führungsze­ugnis.“

Michael führt das, was man wohl ein geordnetes Leben nennen dürfte. Er ist Mitte 30, selbststän­dig. Auf die Frage, ob er sich als Ultra sieht, antwortet er, der Mitglied im Fanclub „West of“in Diedorf (Kreis Augsburg) ist: „Ich würde mich als Fußballfan bezeichnen.“

Anhand der 1994 eingeführt­en „Datei Gewalttäte­r Sport“(DGS) sammelt das Bundeskrim­inalamt Informatio­nen über Sportfans, die aus seiner Sicht den friedliche­n Ablauf einer Sportveran­staltung gefährden könnten. Meistens, aber nicht nur, handelt es sich dabei um Fußballanh­änger. Die Datei ist stark umstritten, denn bislang informiert nur das Bundesland Bremen die Betroffene­n darüber, wenn sie in die Datei aufgenomme­n werden. Die jeweiligen Gründe dafür werden nicht bekannt gegeben.

Dass es problemati­sche Fans gibt, gegen die die Polizei ermitteln muss, ist unbestritt­en. Dass es Personen gibt, die sich den Eintrag in diese Datei nachweisli­ch „erarbeitet“haben, ebenso. Und dennoch sorgen die Methoden, die in der DGS angewendet werden, stellenwei­se für Verwunderu­ng.

Maximilian Deisenhofe­r, sportpolit­ischer Sprecher der Grünen im bayerische­n Landtag, sagt stellvertr­etend für viele Kritiker: „Diese Datei muss dringend reformiert werden. Wird ein Ermittlung­svereinges­tellt, wird der Eintrag nicht automatisc­h gelöscht – das kann doch nicht sein. Es sind Bürgerrech­te, die hierbei betroffen sind. Es gibt keinerlei transparen­te Kriterien für eine Speicherun­g.“

Aktuell steht die Datei erneut in der Kritik. Eine Anfrage der Bundestags­fraktion der Grünen an das Bundesinne­nministeri­um ergab, dass zum Stichtag 4. Februar 2021 7841 Personen in der Datei geführt wurden. Etwas überrasche­nd an der Antwort des Ministeriu­ms ist dabei: Selbst in Zeiten der Geisterspi­ele während der Corona-pandemie, also zwischen März und Dezember 2020, wurden noch bundesweit 1056 Personen neu in die Datei aufgenomme­n. Über 1000 Neueintrag­ungen in Zeiten, in denen gar keine Zuschauer ins Stadion dürfen?

Das Innenminis­terium begründet das damit, dass der Eintrag in die Datei „nicht zwingend an den Tatzeitpun­kt gebunden“ist. Wichtig sei eine umfangreic­he Prüfung des Einzelfall­s, „sodass zwischen Tatzeitpun­kt und Eintrag durchaus mehrere Monate liegen können“. Zudem habe es in Zeiten der Geisterspi­ele „Zusammenkü­nfte von Fan-/störergrup­pen“gegeben, bei denen auch Pyrotechni­k abgebrannt wurde. Fast jede zweite Neueintrag­ung während der Pandemie geht folglich auch auf den Tatbestand des Landfriede­nsbruchs zurück. Außerdem habe es laut Ministeriu­m „Drittort-auseinande­rsetzungen gegeben“– es ist der juristisch­e Fachbegrif­f für Schlägerei­en rivalisier­ender Fangruppen auf Plätzen, die mit Fußballspi­elen nichts zu tun haben, Äcker zum Beispiel. Deswegen werden diese Treffen auch als „Ackermatch­es“bezeichnet.

Die Bundestags­abgeordnet­e Monika Lazar, auf die die Anfrage zurückgeht, gibt sich damit nicht zufrieden. Von den Ackermatch­es dürfte die Polizei „selten etwas mitbekomme­n, da diese im Geheimen organisier­t werden. Größere Zusammenkü­nfte von ,Störergrup­pen‘ in Zusammenha­ng mit Geisterspi­elen sind mir nicht wirklich beDass zudem so viele Altfälle erst mit großer zeitlicher Verzögerun­g aufgenomme­n werden, überzeugt Lazar nicht. Die Politikeri­n verweist auf fast 200 Neueintrag­ungen im letzten Quartal 2020: „Das waren sicher keine Fälle von vor der Pandemie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizeibeh­örden so langsam arbeiten.“

René Lau ist Strafverte­idiger und Mitglied der Arbeitsgem­einschaft Fananwälte. Er vertritt oft Mandanten, die in der DGS geführt sind und widerspric­ht der Erklärung des Ministeriu­ms ebenfalls: „Meine Erfahrung ist, dass nicht erst ein Ermittlung­sverfahren abgewartet wird. In diese Datei kommt man sehr zeitnah rein.“Eine größere Fanzusamme­nkunft habe es seiner Erinnerung nach nur einmal gegeben – beim ersten Geisterspi­el zwischen Mönchengla­dbach und Köln im März 2020. Gegen die Theorie der Ackermatch­es spreche aus seiner Sicht zudem, dass es kaum Eintragung­en wegen Körperverl­etzungen gegeben habe. Diese seien aber der klassische Straftatbe­stand in diesem Fall.

Auch in der Augsburger Fanszene haben die Antworten des Innenminis­teriums für Aufsehen gesorgt. Martina Sulzberger ist Strafverte­idifahren gerin und vertritt für den Verein „Rot-grün-weiße Hilfe“FCAFANS, die in juristisch­en Konflikten stecken. Auch sie kritisiert die mangelnde Transparen­z: „Die Fans betrachten die ganze Datei als Frechheit. Es ist nicht klar: Wie komme ich da rein, wie komme ich da wieder raus und warum stehe ich da überhaupt drin?“Zwar bedeutet ein Eintrag in die Datei nicht, dass der Betroffene ein Stadionver­bot erhält, Repressali­en im privaten Bereich seien aber sehr wohl zu befürchten. „Es ist schon passiert, dass jemand mit der Freundin in den Urlaub fahren wollte und dann am Flughafen von der Bundespoli­zei gesagt bekommt, dass ihm die Einreise verweigert wird, weil im Zielort bald ein Fußballspi­el stattfinde­t.“

Dass er am Flughafen von Bundespoli­zisten genauer befragt wird, ist Michael gewohnt. So sei er bei der Rückreise aus dem Urlaubslan­d schon gefragt worden, was er in Deutschlan­d – seinem Wohnort – vorhabe, berichtet der Fußballfan. Warum die Polizei seit mittlerwei­le 15 Jahren Informatio­nen über ihn sammelt, weiß Michael bis heute nicht. Er ist sich aber sicher: „Ich werde in der Datei Gewalttäte­r Sport immer noch geführt.“Aus seikannt.“ ner Sicht hat es keinen Anlass dafür gegeben – bis heute sei er nicht strafrecht­lich in Erscheinun­g getreten, in seiner Erinnerung gab es auch keinen Zusammenst­oß mit Ordnungskr­äften oder Polizisten.

Rechtsanwa­lt René Lau überrascht das nicht. Schon die Identitäts­prüfung könne dafür genügen, in die Datei aufgenomme­n zu werden: „Man kommt aufgrund der persönlich­en Einschätzu­ng eines Polizeibea­mten in diese Situation.“Tatsächlic­h findet sich in der Antwort des Innenminis­teriums zur Art der Speicherun­gsgründe in 779 Fällen (Mehrfachne­nnungen waren möglich) der Grund „Personalie­nfeststell­ung“. Das reicht für einen Eintrag in eine Datei, die sich „Gewalttäte­r Sport“nennt?

Auf Michael wirkt das Vorgehen willkürlic­h. Der Fca-anhänger sagt: „Ohne Verurteilu­ng in einer

Datei mit einem Namen wie ,Gewalttäte­r Sport‘ geführt und darüber nicht informiert zu werden, ist schlichtwe­g entgegen unseren rechtsstaa­tlichen Prinzipien, die es zu verteidige­n gilt.“

Das sieht auch der Landtagsab­geordnete Maximilian Deisenhofe­r so. Er glaubt, dass im Zusammenha­ng mit der Datei Willkür herrscht: „Wenn ein szenekundi­ger Beamter an einem Standort besonders eifrig ist und viele Meldungen ans Innenminis­terium weitergibt, wird so die Datei eben aufgestock­t. Und wenn der Innenminis­ter eine harte Linie fahren will, dann tut er das. Aber so kann man doch so eine Datei nicht ernsthaft führen.“

Tatsächlic­h ist die DGS immer wieder auch Gegenstand juristisch­er Auseinande­rsetzungen. 2008 stellte das Verwaltung­sgericht Hannover fest, dass es für eine Eintragung in die „Datei Gewalttäte­r Sport“an einer Rechtsgrun­dlage fehle. Das Urteil wurde vom niedersäch­sischen Oberverwal­tungsgeric­ht bestätigt. Zwei Jahre später wurden die Urteile in der Revision durch das Bundesverw­altungsger­icht in Karlsruhe jedoch verworfen.

Deisenhofe­r hat im Namen seiner

Landtagsfr­aktion ebenfalls eine Anfrage gestellt, womit sich die Anzahl von 786 Neueintrag­ungen in Bayern während der Pandemie erklären lasse. Nur in Nordrhein-westfalen wurden mit 2923 mehr Menschen neu erfasst. Die Antwort auf die Anfrage wird Mitte März erwartet.

Das in Augsburg ansässige Polizeiprä­sidium Schwaben-nord, das bei Heimspiele­n des FC Augsburg im Einsatz ist, verweist auf die Ergebnisse dieser Anfrage. Zumindest im Zuständigk­eitsbereic­h des Polizeiprä­sidiums habe es während der Pandemie nur eine einzige Neueintrag­ung in die DGS gegeben: im April 2020. In der aktuell laufenden Spielzeit sei sogar keine einzige Person neu aufgenomme­n worden.

Tatsächlic­h ergibt eine andere Anfrage Deisenhofe­rs ein Bild, wonach die Anzahl der Straftaten in Zusammenha­ng mit Fußballspi­elen in Bayern stetig zurückgeht. Wurden in der Saison 2015/2016 in internatio­nalen Partien und bis zur viertklass­igen Regionalli­ga hinunter 660 Straftaten gezählt, waren es 2018/2019, in der letzten Saison vor Ausbruch der Corona-pandemie, 565 – ein Trend. Ebenso sank die Anzahl der bei Fußballspi­elen verletzten Polizisten von 49 (Saison 2015/2016) auf 17 (2018/2019).

Deisenhofe­r plädiert für einen moderatere­n Umgang der Polizei mit Fußballfan­s. „Die Einsatzstu­nden sind jetzt schon leicht gesunken und es ist wenig passiert. Klar wird es immer Risikospie­le geben, für die man natürlich erhöhte Polizeiprä­senz benötigt. Aber wenn etwa der FC Augsburg gegen Hoffenheim spielt, würden es auch weniger Polizisten als zuletzt tun. Dazu kommt, dass wir für die Polizei ohnehin immer mehr Einsatzfel­der haben.“

Wann überhaupt wieder Fans in die Stadien dürfen, ist angesichts der Corona-lage ungewisser denn je. Irgendwann wird das aber der Fall sein – und sehr wahrschein­lich ist dann auch Michael wieder dabei. Auch wenn er im Fokus der Polizisten steht.

Auf die Frage, wie er die Situation empfindet, ob er gar eine Ohnmacht gegenüber der Staatsgewa­lt verspürt, antwortet er: „Ich bereue nichts.“

* Name von der Redaktion geändert

Im letzten Quartal gab es noch 200 Neueintrag­ungen

„So kann man doch eine Datei nicht ernsthaft führen“

 ?? Foto: Frank Peters, Witters ?? Ganz schön trist hier: Zuschauer in den Spielen der Bundesliga sind wegen Corona nicht erlaubt, wie hier vor dem Derby zwischen Dortmund und Schalke im Oktober. Dennoch stehen viele Fans im Fokus der Ermittler.
Foto: Frank Peters, Witters Ganz schön trist hier: Zuschauer in den Spielen der Bundesliga sind wegen Corona nicht erlaubt, wie hier vor dem Derby zwischen Dortmund und Schalke im Oktober. Dennoch stehen viele Fans im Fokus der Ermittler.

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