Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Gerade ist Chemie besonders wichtig
Wie organisiert eine Waldorfschule eigentlich den Distanzunterricht? Capito durfte die 7a und 7b an der Stuttgarter Michael Bauer Schule digital besuchen
Seit dem Lockdown wissen wir: Schule ist nicht länger an einen Ort gebunden. Sofern man einen Internetzugang und einen Computer hat, kann man theoretisch von überall auf der Welt am Unterricht teilnehmen. Durch das Internet ist es auch möglich, dass Kinder aus Stuttgart Capito-seiten aus Augsburg digital lesen – und dass das Capito-team einfach mal schnell den digitalen Unterricht im Bundesland Baden-württemberg besucht. So geschehen vergangene Woche. Da hatten mich die Klassen 7a und 7b der Michael Bauer Schule in Stuttgart eingeladen, mal in ihre digitalen Klassenzimmer zu kommen. Wie läuft der Distanzunterricht an der Waldorfschule ab? Diese Frage fand ich besonders spannend. Denn Computer spielten vor dem Lockdown im Unterricht der Waldorfschule keine große Rolle.
Die Michael Bauer Schule ist eine freie Waldorfschule. Sie gehört nicht dem Land Badenwürttemberg, sondern wird von einem Verein geführt. Es wird nach Waldorf-pädagogik unterrichtet: Das sind Lernregeln, die an Waldorfschulen gelten. Auf den Stundenplänen stehen zum Beispiel Fächer wie Gartenbau und Holzwerken. Außerdem lernen die Jungen und Mädchen in Epochen. Die 7b hat gerade eine Chemie-epoche und beschäftigt sich also intensiv mit dem Fach Chemie – auch im Homeschooling. Klassenlehrerin Marianne Esgerkraft hat den Schülerinnen und Schülern Unterrichtsmaterial vorbereitet, das die Teenager an der Schule abgeholt haben. Zu Hause mussten sie sich selbstständig in das Thema „Säuren und Laugen“einlesen. Sie lernten
also Neues über ätzende Stoffe. Die 35 Schülerinnen und Schüler haben sich dann daheim in Zweiergruppen getroffen und auch Experimente durchgeführt. Sie mixten zum Beispiel Brause – und verwendeten dabei Natronlauge und Zitronensäure. Was sie dabei gelernt haben, halten sie in einem Epochenheft fest: Sie schreiben, zeichnen oder kleben Fotos ein.
Ist der Intensivkurs Chemie nach rund drei Wochen beendet, folgt eine neue Epoche in einem anderen Fach – zum Beispiel Geschichte. In einer Geschichtsepoche hat sich 7b übrigens auch schon mal mit der bekannten Augsburger Kaufmannsfamilie Fugger auseinandergesetzt.
Die Idee hinter diesem Epochenunterricht: Statt stundenweise nur pro Fach Häppchen zu lernen, sollen sich die Kinder ganz intensiv mit einem Thema beschäftigen und so die Zusammenhänge besser verstehen. Neben der Chemie-epoche gibt es eine Sprach-epoche. In der gab es auch schon vor dem Lockdown Wechselunterricht: Immer drei Wochen lang hat ein Teil der Klasse Englisch und der andere Teil Französisch – dann wird gewechselt.
Der Distanzunterricht läuft in der 7b größtenteils ohne Computer ab. Frau Esger-kraft nutzt Videokonferenzen nur für kleine Gruppen, wenn gemeinsam etwas erarbeitet werden soll. Für das Treffen mit Capito treffen sich nun aber alle Chemie-zweiergruppen online – und wir sprechen auch über Fake News und Internet-mobbing. Das hat ja im Grunde genommen auch etwas mit zwischenmenschlicher Chemie zu tun – und mit giftigen Nachrichten und giftiger Sprache. Wie genau das Homeschooling in der Mittelstufe abläuft, darf an der Michael Bauer Schule jede Lehrkraft für sich entscheiden. Bertram Husemann, Klassenlehrer der 7a, hat einen täglichen Videounterricht mit seiner Klasse eingeführt. „Ich bin total erstaunt, wie dieses Online-format ein bisschen die direkte Begegnung ersetzen kann, die ja im Moment nicht möglich ist“, sagt er. Aus dem Auge, aus dem Sinn – das gibt es in der 7a nicht. Oder anders ausgedrückt: Die Videokonferenzen sind gut für die Klassenchemie – dabei hat die 7a aber gerade eine Deutsch-epoche.
Die Jungen und Mädchen befassen sich zum Beispiel mit Texten des bekannten deutschen Dichters Friedrich Schiller. Herr Husemann hat das Gedicht „Die Bürgschaft“auf die Internetplattform Moodle gestellt. Die Schülerinnen und Schüler konnten es sich dort runterladen. Dazu gab es die Aufgabe, den Text in ein Comic umzuwandeln. Gerade lernt die Klasse den Text „Der Taucher“auswendig – jeder Teenager einen bestimmten Abschnitt. Dann tragen sie im Online-unterricht nacheinander das ganze Gedicht vor und nehmen es digital auf. Herr Husemann ist begeistert, wie viel Wissen über Computer und Programme sich die Kinder in der Zeit des Homeschoolings von alleine angeeignet haben. Vieles werden sie auch noch gebrauchen können, wenn der Lockdown vorbei ist.
Übrigens ist noch etwas besonders in der 7a und 7b, was in gewisser Weise auch mit der Chemie zwischen Menschen zu tun hat: Viele Schüler duzen Herrn Husemann und Frau Esger-kraft – denn sie haben ihre Klassenlehrer schon seit der 1. Klasse, sie kennen sich alle also schon richtig gut und lange.
Die 7b experimentiert gerade mit Säuren und Laugen
Die 7a zeichnet Comics nach einem Schillergedicht