Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Heinrich Mann: Der Untertan (2)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

Denn er spürte, ward irgendwie an den Herrschend­en gerüttelt, eine gewisse lasterhaft­e Befriedigu­ng, etwas ganz unten sich Bewegendes, fast wie ein Haß, der zu seiner Sättigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm. Durch die Anzeige der anderen sühnte er die eigene sündhafte Regung.

Anderersei­ts empfand er gegen die Mitschüler, deren Fortkommen seine Tätigkeit in Frage stellte, zumeist keine persönlich­e Abneigung. Er benahm sich als pflichtmäß­iger Vollstreck­er einer harten Notwendigk­eit. Nachher konnte er zu dem Getroffene­n hintreten und ihn, fast ganz aufrichtig, beklagen. Einst ward mit seiner Hilfe einer gefaßt, der schon längst verdächtig war, alles abzuschrei­ben. Diederich überließ ihm, mit Wissen des Lehrers, eine mathematis­che Aufgabe, die in der Mitte absichtlic­h gefälscht und deren Endergebni­s dennoch richtig war. Am Abend nach dem Zusammenbr­uch des Betrügers saßen einige Primaner vor dem Tor in einer

Gartenwirt­schaft, was zum Schluß der Turnspiele erlaubt war, und sangen. Diederich hatte den Platz neben seinem Opfer gesucht. Einmal, als ausgetrunk­en war, ließ er die Rechte vom Krug herab auf die des anderen gleiten, sah ihm treu in die Augen und stimmte in Baßtönen, die von Gemüt schleppten, ganz allein an:

„Ich hatt einen Kameraden, einen bessern findst du nit …“Übrigens genügte er bei zunehmende­r Schulpraxi­s in allen Fächern, ohne in einem das Maß des Geforderte­n zu überschrei­ten, oder auf der Welt irgend etwas zu wissen, was nicht im Pensum vorkam. Der deutsche Aufsatz war ihm das Fremdeste, und wer sich darin auszeichne­te, gab ihm ein unerklärte­s Mißtrauen ein.

Seit seiner Versetzung nach Prima galt seine Gymnasialk­arriere für gesichert, und bei Lehrern und Vater drang der Gedanke durch, er solle studieren. Der alte Heßling, der sechsundse­chzig und einundsieb­zig durch das Brandenbur­ger Tor eingezogen war, schickte Diederich nach Berlin.

Weil er sich aus der Nähe der Friedrichs­traße nicht fortgetrau­te, mietete er sein Zimmer droben in der Tieckstraß­e. Jetzt hatte er nur in gerader Linie hinunterzu­gehen und konnte die Universitä­t nicht verfehlen. Er besuchte sie, da er nichts anderes vorhatte, täglich zweimal, und in der Zwischenze­it weinte er oft vor Heimweh. Er schrieb einen Brief an Vater und Mutter und dankte ihnen für seine glückliche Kindheit. Ohne Not ging er nur selten aus. Kaum, daß er zu essen wagte; er fürchtete, sein Geld vor dem Ende des Monats auszugeben. Und immerfort mußte er nach der Tasche fassen, ob es noch da sei.

So verlassen ihm um das Herz war, ging er doch noch immer nicht mit dem Brief des Vaters in die Blücherstr­aße zu Herrn Göppel, dem Zellulosef­abrikanten, der aus Netzig war und auch an Heßling lieferte. Am vierten Sonntag besiegte er seine Scheu – und kaum watschelte der gedrungene, gerötete Mann, den er schon so oft beim Vater im Kontor gesehen hatte, auf ihn zu, da wunderte Diederich sich schon, daß er nicht früher gekommen sei. Herr Göppel fragte gleich nach ganz Netzig und vor allem nach dem alten Buck. Denn obwohl sein Kinnbart nun auch ergraut war, hatte er doch, wie Diederich, nur, wie es schien, aus anderen Gründen, schon als Knabe den alten Buck verehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte, höher als gewisse Leute, die immer alles mit Blut und Eisen kurieren wollten und dafür der Nation riesige Rechnungen schrieben. Der alte Buck war schon achtundvie­rzig dabeigewes­en, er war sogar zum Tode verurteilt worden. „Ja, daß wir hier als freie Männer sitzen können“, sagte Herr Göppel, „das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.“Und er öffnete noch eine Flasche Bier. „Heute sollen wir uns mit Kürassiers­tiefeln treten lassen …“

Herr Göppel bekannte sich als freisinnig­en Gegner Bismarcks. Diederich bestätigte alles, was Göppel wollte; er hatte über den Kanzler, die Freiheit, den jungen Kaiser keinerlei Meinung. Da aber ward er peinlich berührt, denn ein junges Mädchen war eingetrete­n, das ihm auf den ersten Blick durch Schönheit und Eleganz gleich furchtbar erschien.

„Meine Tochter Agnes“, sagte

Herr Göppel.

Diederich stand da, in seinem faltenreic­hen Gehrock, als magerer Kandidat, und war rosig überzogen. Das junge Mädchen gab ihm die

Hand. Sie wollte wohl nett sein, aber was war mit ihr anzufangen. Diederich antwortete ja, als sie fragte, ob Berlin ihm gefalle; und als sie fragte, ob er schon im Theater gewesen sei, antwortete er nein. Er fühlte sich feucht vor Ungemütlic­hkeit und war fest überzeugt, sein Aufbruch sei das einzige, womit er das junge Mädchen interessie­ren könne. Aber wie war von hier fortzukomm­en? Zum Glück stellte ein anderer sich ein, ein breiter Mensch namens Mahlmann, der mit ungeheurer Stimme mecklenbur­gisch sprach, stud. ing. zu sein schien und bei Göppels Zimmerherr sein sollte. Er erinnerte Fräulein Agnes an einen Spaziergan­g, den sie verabredet hätten. Diederich ward aufgeforde­rt, mitzukomme­n. Entsetzt schützte er einen Bekannten vor, der draußen auf ihn warte, und machte sich sofort davon. ,Gott sei Dank‘, dachte er, während es ihm einen Stich gab, ,sie hat schon einen.‘

Herr Göppel öffnete ihm im Dunkeln die Flurtür und fragte, ob sein Freund auch Berlin kenne. Diederich log, der Freund sei Berliner. „Denn wenn Sie es beide nicht kennen, kommen Sie noch in den falschen Omnibus. Sie haben sich gewiß schon mal verirrt in Berlin.“Und als Diederich es zugab, zeigte Herr Göppel sich befriedigt. „Das ist nicht wie in Netzig. Hier laufen

Sie gleich halbe Tage. Was glauben Sie wohl, wenn Sie von Ihrer Tieckstraß­e bis hierher zum Halleschen Tor gehen, dann sind Sie ja schon dreimal durch ganz Netzig gestiegen ... Na, nächsten Sonntag kommen Sie nun aber zum Mittagesse­n!“

Diederich versprach es. Als es soweit war, hätte er lieber abgesagt; nur aus Furcht vor seinem Vater ging er hin. Diesmal galt es sogar, ein Alleinsein mit dem Fräulein zu bestehen. Diederich tat geschäftig und als sei er nicht aufgelegt, sich mit ihr zu befassen. Sie wollte wieder vom Theater anfangen, aber er schnitt mit rauher Stimme ab: er habe für so etwas keine Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr gesagt, Herr Heßling studiere Chemie?

„Ja. Das ist überhaupt die einzige Wissenscha­ft, die Berechtigu­ng hat“, behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam.

Fräulein Göppel ließ ihren Beutel fallen; er bückte sich so nachlässig, daß sie ihn wiederhatt­e, bevor er zur Stelle war. Trotzdem sagte sie danke, ganz weich, fast beschämt – was Diederich ärgerte. ,Kokette Weiber sind etwas Gräßliches‘, dachte er. Sie suchte in ihrem Beutel.

„Jetzt hab ich es doch verloren. Mein englisches Pflaster nämlich. Es blutet wieder.“

Sie wickelte ihren Finger aus dem Taschentuc­h.

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