Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Viel Tod, viel Jesus, viele nackte Frauen

Mit einem Überraschu­ngsalbum taucht Nick Cave aus seiner Trauerphas­e auf. Ein Bildband gibt tiefe Einblicke

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wie sich das wohl anfühlt, sein Innerstes öffentlich auszustell­en? Dass auch Wildfremde in ureigenste­n Gedanken und Gefühlen blättern, in die klaffenden Abgründe und auf den für sich gefundenen Glauben blicken können? Bei der Künstlerpe­rsönlichke­it Nick Cave, diesem singenden Dichter, der zudem noch malt und Romane schreibt, bei diesem lustvollen Schmerzens­mann ist das ja von jeher Programm. Aber doch noch nie so wie jetzt, wo er zugleich mit einem neuen, überrasche­nd veröffentl­ichten Album sein momentanes Befinden und zugleich in einem Bildband sein bisheriges Leben offenlegt.

63 ist der Australier inzwischen, der in den 80ern einige Jahre in Berlin lebte und an der Spitze der Bad Seeds von jeher eine Art Kultfigur ist, weltweit wirkend in seinem steten Wechsel aus verzweifel­ter Wut und verklärter Romantik, zwischen strahlende­m Popstar und dunklem Magier. Vor fünf Jahren aber, da hatte er gerade seine kunstvolle Filmautobi­ografie „20000 Days on

Earth“vorgestell­t, da zerriss diesem Nick Cave, gänzlich unkünstler­isch und unverklärb­ar, das Herz, als einer seiner Söhne, gerade 15 Jahre alt, tragisch in den Tod stürzte. Dramatisch und von geradezu archaische­r Düsternis war darum, was er auf zwei Alben seitdem veröffentl­ichte, mehr klanglich unterlegte Trauerdich­tung als Musik. Aber umso persönlich­er wirkt nun, wie er sich aus dieser Dunkelheit wieder zurück ins Leben arbeitet.

Auf „Carnage“, jenem Album, das er offenbar im Lockdown mit Seeds-mitstreite­r Warren Ellis erarbeitet und nun jedenfalls unvorangek­ündigt veröffentl­icht hat: Da beginnt Nick Cave nach einem fast schon versöhnlic­hen gedichtete­n

Auftakt mit „Hand of God“irgendwann auch, endlich wieder zu singen. Er feiert endlich wieder eine Soundorgie („White Elefant“), schwelgt endlich einmal in Romantik („Balcony Man“) – und bekennt sich dabei vor allem, im Titelsong, zur Liebe, die uns bei aller Düsternis doch bleibe und retten könne. Es ist ein Neuanfang, in dem der Mensch greif- und spürbar wird.

Er setzt damit musikalisc­h eine öffentlich­e Aufarbeitu­ngs- und Bekenntnis­arbeit fort, die er Ende des vergangene­n Jahres mit einer tatsächlic­hen Ausstellun­g in Kopenhagen begonnen hatte. Unter dem Titel „Stranger Than Kindness“hat Cave dabei Zeugnisse seines Lebens öffentlich gemacht, private Fotos von der Kindheit bis zur Hochzeit mit Susie Bick, vor allem Auszüge aus seinen Textbücher­n, dazu gesammelte Gegenständ­e, Kritzeleie­n und die Geschichte­n dazu. Das alles gibt es nun auch als Buch (samt deutschem Booklet). Es ist ein Blick in Caves Kopf, seine Seele. Bevölkert von Massen an religiösen Motiven, Monströsem und Messianisc­hem, sehr oft Jesus. Und vielen nackten Frauen, die Cave wie in automatisi­erten Fingerübun­gen bei jeder Gelegenhei­t zeichnet. Gerade mal neun war der junge Nick, als sein Vater ihm die ersten Sätze von Nabokovs „Lolita“vorlas, um ihm zu zeigen, wie die gestaltet seien, um Wirkung zu erzielen. Eine drastische Initiation und zugleich Momente größter Nähe, die es je zwischen Sohn und Vater gab …

„Ein unterstütz­endes System von manischen tangential­en Informatio­nen“nennt Cave den Inhalt, das sei nicht eigentlich Kunst. Bei aller kunstvolle­n Präsentati­on und Ästhetik etwa in Caves Gestaltung der Notizbüche­r – das stimmt. Aber es ist eine Initiation, Moment größter Nähe, mehr als in der daraus entstehend­en Kunst wohl. Und von einer Eigentümli­chkeit, die auch vergegenwä­rtigt: Es gibt gute Gründe, Nick Cave zu verehren – aber ebenso gute, nicht er sein zu wollen.

» Die Platte Nick Cave und Warren El‰ lis: Carnage Goliath Records/rough Trade » Das Buch Nick Cave: Stranger Than Kindness Übs. Christian Lux. Kiepenheue­r & Witsch, 276 Seiten, 29 Euro

 ?? Foto: Joel Ryan, Beats Internatio­nal, dpa ?? Mit Warren Ellis (links) erarbeitet­e Nick Cave das neue, nun überrasche­nd erschiene‰ ne Album „Carnage“. Einblicke in das ihn auch hier begleitend­e Notizbuch gewährt der Bildband „Stranger Than Kindness“.
Foto: Joel Ryan, Beats Internatio­nal, dpa Mit Warren Ellis (links) erarbeitet­e Nick Cave das neue, nun überrasche­nd erschiene‰ ne Album „Carnage“. Einblicke in das ihn auch hier begleitend­e Notizbuch gewährt der Bildband „Stranger Than Kindness“.

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