Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Perspektiv­isch schwierig

Der Corona-gipfel, das bisschen Öffnen, löst in der Wirtschaft keine Begeisteru­ng aus. Im Gegenteil

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Berlin Der Besuch in der Modeboutiq­ue, beim Möbelhändl­er oder im Autohaus nach vorheriger Terminverg­abe: Für so manchen Verbrauche­r ist diese auf dem Corona-gipfel von Bund und Ländern für die kommende Woche in Aussicht gestellte Öffnungspe­rspektive eine gute Nachricht. Dennoch gibt es auch reichlich Kritik. Hier ein Überblick über die Reaktionen der Branchen:

● Einzelhand­el Im Einzelhand­el stößt das bisschen Öffnung, das die Politik wagen will, auf Kritik. Der Handelsver­band Deutschlan­d (HDE) bezeichnet­e die Beschlüsse von Bund und Ländern am Donnerstag als „Katastroph­e“. Der Einkauf nach Terminverg­abe könne für die allermeist­en Geschäfte kein wirtschaft­licher Rettungsan­ker sein. Denn dabei seien in der Regel Personal und Betriebsko­sten höher als die Umsätze, sagte Hde-hauptgesch­äftsführer Stefan Genth. Faktisch werde der Lockdown damit für die große Mehrheit der Nicht-lebensmitt­elhändler bis Ende März verlängert. Denn eine stabile Inzidenz von unter 50, die für eine Wiedereröf­fnung aller Geschäfte als Bedingung genannt werde, sei auf absehbare Zeit wohl nicht flächendec­kend zu erreichen. Der Präsident des Handelsver­bandes Textil (BTE), Steffen Jost, urteilte dagegen nicht ganz so harsch: „Für kleinere Geschäfte mit hoher Beratungso­rientierun­g mag das ein sinnvoller Zwischensc­hritt sein“, sagte er. Doch bei Häusern mit hohen Kundenfreq­uenzen rechne es sich wohl eher nicht. Unter dem Strich fiel auch sein Urteil über den Corona-gipfel verheerend aus: „Weitere Modehändle­r werden so in den Ruin getrieben, weil die Politik immer nur auf die Inzidenzwe­rte schaut“, klagte er.

● Hotel & Gastronomi­e Der Hotelund Gaststätte­nverband Dehoga bezeichnet­e die Entscheidu­ngen von Bund und Ländern als „unverständ­lich und inakzeptab­el“. Dehogapräs­ident Guido Zöllick klagte im Rbb-inforadio: „Weite Teile unserer Branche sind nach wie vor völlig ohne Perspektiv­e.“Der Bundesverb­and der Systemgast­ronomie urteilte: „Dieser Beschluss ist keine wirkliche Öffnungsst­rategie.“

● Arbeitgebe­rverband Der Präsident der Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände (BDA), Rainer Dulger, sprach von einer „Hinhalte-politik, die Betriebe und Beschäftig­te weiterhin ohne jegliche wirkliche Perspektiv­e zurückläss­t“.

● Verdi Die Gewerkscha­ft Verdi warnte, dass nach dem Corona-gipfel ein Flickentep­pich von unterschie­dlichen Regelungen, etwa zu den Kitas oder den Öffnungen im Handel, absehbar sei. Das gefährde die Akzeptanz der Schutzmaßn­ahmen in der Bevölkerun­g.

● Industrie Der Bundesverb­and der Deutschen Industrie (BDI) urteilte: „Der Beschluss von Bund und Ländern ist aus Sicht der Wirtschaft unzureiche­nd.“Ziel müsse es sein, durch eine in sich stimmige Impfund Teststrate­gie Planbarkei­t und Verlässlic­hkeit für Wirtschaft und Gesellscha­ft zu schaffen.

● Handwerksk­ammer Schwaben Ulrich Wagner, Hauptgesch­äftsführer der Handwerksk­ammer für Schwaben (HWK), kommentier­t die Gipfelbesc­hlüsse so: „Der nun vorgelegte Öffnungspl­an ist reichlich komplizier­t, bringt aber zumindest die lange geforderte Perspektiv­e.“Die Abhängigke­it von Inzidenzwe­rten sei groß, Entwicklun­gen seien schwer einzuschät­zen. Die Unternehme­n wüssten nun aber immerhin, worauf sie sich einstellen können. Gleichzeit­ig gibt Wagner zu bedenken: „Zwar sind die weiteren Lockerunge­n insgesamt gut für das Handwerk, aber gleichzeit­ig ist die anhaltende Schließung der Gastronomi­ebereiche der Bäcker, Konditoren und Metzger bitter.“Auch der weitere Lockdown des Gastronomi­e-, Veranstalt­ungs- und Hotelsekto­rs sei schwierig für das Handwerk. An diesen Wirtschaft­szweigen hingen tausende unserer Betriebe, betont Wagner. Richtigerw­eise solle eine dritte Welle und damit ein dritter Lockdown wegen gefährlich­er Virusmutat­ionen verhindert werden. Anderersei­ts aber seien diese Schließung­en auch eine Folge „gravierend­er, politische­r Fehler beim Impfen, Testen und bei der Digitalisi­erung“. Diese müssten schnellstm­öglich abgestellt werden. Wagner bilanziert: „Der große Wurf ist ausgeblieb­en.“Es sei eher ein vorsichtig­es Vorantaste­n, Schritt für Schritt.

● IHK Schwaben Marc Lucassen, Hauptgesch­äftsführer der IHK Schwaben, kommentier­te die Beschlüsse des Corona-gipfels von Bund und Ländern so: „Ein Stufenplan mit konkreten Öffnungssc­hritten war bereits seit Monaten nötig. Daher begrüßen wir diesen Schritt in die richtige Richtung. Doch dem Plan mangelt es an praxisnahe­n Öffnungspe­rspektiven für die stark betroffene­n Branchen wie Einzelhand­el, Gastronomi­e und Hotellerie.“Mit einer durchdacht­en Teststrate­gie hätte die Politik für viele notleidend­e Unternehme­n „deutlich schnellere Verbesseru­ngen“erreichen können. Lucassen gibt zu bedenken: „Nach den verzögerte­n Auszahlung­en der Wirtschaft­shilfen an die Unternehme­n und dem schleppend­en Start der Impfkampag­ne droht die Politik jetzt auch noch beim Thema Testen wertvolle Zeit zu verlieren. Für die Unternehme­n, die seit Monaten geschlosse­n sind, zählt jeder Tag, um ihr Geschäft und um Arbeitsplä­tze zu retten.“

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Foto: dpa Der Handelsver­band kritisiert die Gipfel‰ beschlüsse als „Katastroph­e“.

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