Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Viren und Renovieren

Selten haben Menschen so viel Zeit zu Hause verbracht wie jetzt. Millionen Deutsche nutzen die Pandemie, um die eigenen vier Wände aufzumöbel­n. Eine Geschichte über Dschungelt­apeten, den berühmten Wohlfühlfa­ktor und Urlaubssti­mmung aus dem Baumarkt

- VON PIET BOSSE

Bobingen Das Urlaubsgef­ühl gibt es ausnahmswe­ise nicht im Reisebüro, sondern im Baumarkt. Paletten aus Holz, Kissen mit grauen Bezügen, ein Rasenteppi­ch und eine Pflanze liegen auf dem Einkaufswa­gen, die Benjamin Geiger und seine Freundin über den Parkplatz des Bauhaus-marktes im Augsburger Stadtteil Lechhausen schieben. „Wir bauen uns ein Sofa für unseren Balkon“, erklärt Geiger, bevor sie die Einkäufe in ihren großen grünen Van laden. „Jetzt gibt es auch wieder schönes Wetter, das wollen wir nutzen“, ergänzt seine Freundin.

Sie sind nicht die Einzigen, die an den ersten Tagen nach Wiedereröf­fnung der Baumärkte einkaufen, um anschließe­nd das Zuhause zu verschöner­n. Der Parkplatz ist an diesem Werktag gut gefüllt. Die meisten Kunden schieben knallorang­ene Einkaufswa­gen vor sich her, die sich mit Baustoffen, Blumenerde oder Pflanzen füllen. Mit einem vollen Einkaufswa­gen kehrt auch Helmut Jörg auf den Parkplatz zurück, er baut eine neue Terrasse und ein neues Dach. Den Entschluss, seinen Garten zu verschöner­n, habe er zwar unabhängig von Corona gefasst. Seine Idee ist aber eine, die viele Menschen während der Pandemie teilen.

Die Freizeit zu Hause zu genießen, sich aufs Private zu besinnen, Trendforsc­her nennen das „Cocooning“. Nicht nur ein Schmetterl­ing braucht seinen Kokon. Warum investiere­n so viele Familien gerade jetzt in ihr Zuhause? „Es ist der Ort, der Sicherheit geben soll, gerade in unruhigen Zeiten“, sagt Trendberat­erin Gabriela Kaiser aus Landsberg. Jetzt während der Pandemie gilt erst recht, was Kaiser betont: Sicherheit kann man nur in einem Zuhause empfinden, das wirklich so ist, wie man es gerne hätte. Das Zuhause müsse für viele Dinge herhalten. Während es für manche Ruhe ausstrahle, gebe es anderen Entspannun­g, Energie oder Aufmunteru­ng. „Es geht darum, dass man sich zu Hause gut aufgehoben und wohlfühlt.“Wichtig sei, dass man sich fallen lassen könne. „Ein Zuhause kann nicht alles ersetzten, aber sehr viel.“Den Urlaub etwa, der 2020 nur sehr eingeschrä­nkt möglich war.

Ob Ferien dieses Jahr erlaubt sind, vielleicht nur Geimpfte ans Meer oder in die Berge dürfen, niemand weiß es bisher. Simone und Hardy Loy kann es auch ein wenig egal sein. Sie haben in ihr Leben zu Hause investiert. Vor etwas mehr als zehn Jahren sind Simone Loy – 51 Jahre alt und sehr aufgeweckt, wenn sie spricht – und ihr Ehemann – 58, etwas ruhiger – nach Bobingen gezogen. Sie arbeiten beide im rund 15 Kilometer entfernten Augsburg als Ingenieure beim Landesamt für Umwelt. Mit ihren beiden Söhnen Konstantin und Benjamin, zwölf und neun Jahre alt, leben sie in einem geräumigen Haus mit Garten, direkt am Ortseingan­g. Hinter dem Garten beginnt das Feld.

Stolz und zufrieden sitzen Simone und Hardy Loy vor dem Bildschirm, als sie während eines Videogespr­ächs von den Veränderun­gen am Haus erzählen. Freudig stehen sie auf und beginnen die virtuelle Führung auf dem Tablet. Los geht es im Flur, den trennen jetzt zwei Schiebetür­en vom Wohnzimmer. „Wir haben ein hellhörige­s Haus und wollten die Möglichkei­t haben, das Erdgeschos­s abzutrenne­n“, sagt Hardy Loy. Das sei gerade jetzt besonders praktisch, weil in der Corona-zeit alle vier Familienmi­tglieder häufig zu Hause seien. „Man fängt an, seinen Lebensmitt­elpunkt zu optimieren, ob es Anstreiche­n oder Ausmisten ist“, erklärt Hardy Loy.

„Wenn man mehr Zeit hat, beschäftig­t man sich mehr mit der unmittelba­ren Umgebung.“

Verglaste Duschen, eine Garderobe im Windfang, ein vollständi­g eingericht­etes Bürozimmer: Über zehn Jahre lang hatte das Ehepaar diese Projekte im Hinterkopf. Jetzt, wo die Krise das Leben entschleun­igt, verwirklic­hen sie sie.

Michael Arbter von der gleichnami­gen Schreinere­i in Bobingen hat die Türen für die Loys gebaut. „Wir haben seit Monaten mehr Arbeit als sonst“, sagt er. „Die Leute fahren nicht in den Urlaub, sie investiere­n lieber in die eigene Wohnung.“Wer jetzt bei Arbter einen Tisch oder Türen bestellt, muss vier Monate warten. „Wir haben so viele Anfragen – und die Corona-regeln verzögern den Ablauf.“

Zahlen aus dem Handel bestätigen den Boom: Dass viele Familien ihr Zuhause verschöner­n, sei bei den Bauhaus-verkäufen klar erkennbar, sagt ein Sprecher der Baumarktke­tte. Klassische Renovierun­gsmaßnahme­n seien sehr beliebt. Farben und Tapeten habe man auch in der Saison der Gartenarti­kel im vergangene­n Frühjahr oft verkauft. Mehr noch: Die Nachfrage nach allen Produkten habe im vergangene­n Corona-jahr deutlich zugenommen. „Viele sagen: Bevor ich eine Reise buche, die ich nicht antreten kann, mache ich den Garten schön.“Pools seien 2020 schon im Frühsommer ausverkauf­t gewesen.

Bernd Ohlmann vom Bayerische­n Handelsver­band kennt das Phänomen Cocooning. Neu sei es nämlich nicht: „Schon zurzeit des Irakkriegs oder während der Wirtschaft­skrise haben sich die Leute in die eigenen vier Wände zurückgezo­gen.“Zu kochen und die Wohnung zu renovieren, das seien Anzeichen für die Besinnung aufs Private. Auch Gesellscha­ftsspiele, etwa die alten Klassiker „Mühle“und „Mensch ärgere dich nicht“, seien gerade beliebt. Und man will sich im Garten treffen. Allein der Gartenmark­t im Freistaat habe im Coronajahr 2020 um ungefähr zehn Prozent zugelegt, sagt der Handelsexp­erte. Bei Bauhaus in Augsburg fällt denn auch die riesige Gartenabte­ilung sofort auf. Mitarbeite­r beantworte­n die Fragen der Kunden an Infostände­n. Und im Baustoffbe­reich sind noch etwas mehr Menschen unterwegs.

Familie Loy hat ihre Renovierun­gsarbeiten damit begonnen, in den Kinderzimm­ern zu malern, dann kam der Umbau. Der ältere Sohn Konstantin kommt in die Pubertät, da war eine Umgestaltu­ng fällig. Stolz zeigen seine Eltern das fertige Zimmer am Tablet-bildschirm. „Wir haben es umgeplant und Schränke und ein neues Bett besorgt.“Auch neue Büromöbel hat Konstantin jetzt. Sein jüngerer Bruder Benjamin wollte daraufhin sein Zimmer ebenfalls verändern.

Auch das Büro haben die Loys neu eingericht­et. Die wichtigste­n Anschaffun­gen: ein höhenverst­ellbarer Schreibtis­ch und ein neuer Bürostuhl. Hardy Loy dreht sich mit dem Tablet in der Hand im Kreis. Das Büro sieht fast aus wie zweigeteil­t, denn auf der einen Seite steht der Schreibtis­ch, am anderen Ende des Raums eine cremefarbe­ne Couch. Der Hauptgrund für das neueingeri­chtete Büro sei – wie könnte es anders sein – die Coronasitu­ation: „Wir machen noch mehr Homeoffice als vorher.“

Die Arbeitsbed­ingungen im Homeoffice zu verbessern, ist nicht unüblich. Laut einer Studie der Gesellscha­ft für Konsumfors­chung (GFK) haben 65 Prozent der Deutschen schon während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 Geld in die Ausrüstung daheim gesteckt. Am begehrtest­en: Bürostühle. Der Studie zufolge haben seit dem ersten Lockdown 41 Prozent der Arbeitnehm­er zumindest teilweise im Homeoffice gearbeitet. Besonders in der IT- und Telekommun­ikationsbr­anche arbeiten viele Menschen von daheim aus. Die Umgestaltu­ng des Büros hatten Simone und Hardy Loy aber schon länger geplant, genauso wie Veränderun­gen in den Bädern. Sowohl im Gästebad im Erdgeschos­s als auch im Familienba­d im ersten Stock haben sie den Duschberei­ch umgebaut. „Als wir vor zehn Jahren eingezogen sind, wollten wir das nach der Bauphase nicht noch länger hinziehen, weil wir einziehen mussten.“

Mit Bauarbeite­n in Badezimmer­n kennt Albert Kohl sich aus. Er leitet ein Bobinger Unternehme­n für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechn­ik. Seine Kunden wollten ihr Zuhause wie Familie Loy aktiv verschöner­n, berichtet auch er. Einige hätten selber mitgeholfe­n. „Bei Bad-umbauten haben manche Kunden den Handwerker­n an Tagen zugearbeit­et, an denen diese nicht im Haus waren.“Kunden hätten beispielsw­eise die Demontage vorgenomme­n, die Handwerker die Installati­on. Natürlich nur, wenn es mit dem Hygienekon­zept vereinbar war. „Wer eine handwerkli­che Begabung hat, packt gerne bei einfachen Sachen mal mit an.“Manchmal sicher auch, um Geld zu sparen.

Doch Heizungste­chniker Kohl hat auch die andere Seite der Corona-krise bei seinen Kunden erlebt: „Viele hatten Sorge, den Arbeitspla­tz zu verlieren und sind zurückhalt­end geblieben“, berichtet er. Als die Corona-pandemie erste finanziell­e Konsequenz­en etwa durch Kurzarbeit nach sich zog, hätten einige Kunden wieder storniert.

Familie Loy aus Bobingen weiß ihre glückliche Lage sehr zu schätzen. Selbst angepackt hat aber auch Hardy Loy. Die Holzterras­se im Garten tauschte er selbst aus. Mit dem Holz, das noch gut war, hat er eine zweite kleine Terrasse auf der

Ein schönes Zuhause kann vieles ersetzen

Der Wintergart­en erhöht die Lebensqual­ität

anderen Seite des Hauses gebaut. Im Winter haben Simone und Hardy Loy dort mit ihren Söhnen einen Glühweinst­and gezimmert. Im Sommer haben sie sich eine Tischtenni­splatte und eine Slackline zum Balanciere­n angeschaff­t. „Wir haben Dinge gesucht, die man im Garten machen kann, weil wir wussten, dass wir uns dort noch mehr aufhalten würden“, sagt Hardy Loy.

Trendberat­erin Gabriela Kaiser erklärt das so: „Viele haben in den Garten investiert, weil sie dort ihren Urlaub verbracht haben.“Pools, Strandkörb­e und Wintergärt­en seien beliebt für den Garten. Ein Trend sei, dass sich Menschen drinnen grüner einrichten. Bestes Beispiel: Dschungelt­apeten. „Das hilft natürlich in so einer Zeit. Weil sie nicht ins Grüne konnten, haben sie nachgeholf­en und sich das Grün in ihr Zuhause geholt.“

Simone und Hardy Loy haben auch in einen Wintergart­en investiert. Durch den Anbau des Wintergart­ens gewinne das Leben zu Hause an Qualität, sagt Simone Loy. „Wir hatten es vorher schon sehr schön, und jetzt ist es noch schöner“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht. Fast elf Jahre nach dem Einzug haben die Loys nun einen jahrelange­n Prozess abgeschlos­sen. Vielen anderen Kunden im Baumarkt steht dieses Gefühl erst noch bevor.

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Fotos: Ulrich Wagner Simone und Hardy Loy besitzen in Bobingen ein geräumiges Haus mit Garten. Seit dem Einzug vor fast elf Jahren hatten sie noch offene Projekte. Die Corona‰pandemie hat das Ehepaar genutzt, um den Prozess abzuschlie­ßen.
 ??  ?? Der zwölfjähri­ge Konstantin bekam neue Schränke und ein neues Bett.
Der zwölfjähri­ge Konstantin bekam neue Schränke und ein neues Bett.
 ??  ?? Das Arbeitszim­mer hat eine gemütliche Sofaecke.
Das Arbeitszim­mer hat eine gemütliche Sofaecke.

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