Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wird Brasilien zur Mutantenfa­brik?

Präsident Bolsonaro verliert in dem Riesenland am Äquator deutlich an Zustimmung. Experten fürchten bald bis zu 3000 Covid-tote – pro Tag

- VON TOBIAS KÄUFER

Sao Paulo Eine Gruppe von Kirchenver­tretern zieht einen dramatisch­en – aus deutscher Sicht – verstörend­en Vergleich: Brasilien sei wie eine Gaskammer unter freiem Himmel, schrieb der prominente Obdachlose­npriester Julio Lancellott­i, 72, aus Sao Paulo. Von Völkermord ist da die Rede im „offenen Brief an die Menschheit“, aus dem am Wochenende die Tageszeitu­ng Folha zitierte und den zahlreiche Kirchenver­treter unterschri­eben. Es war die bislang tödlichste Corona-woche in Brasilien: Über 10000 Tote zählten die brasiliani­schen Medien in den vergangene­n sieben Tagen. Hinzu kommen alarmieren­de Belegungsz­ahlen aus den Intensivst­ationen des Landes, in 13 von 18 Regionen der bevölkerun­gsreichen Metropolre­gion Sao Paulo melden die Intensivst­ationen vollbelegt­e Betten. Erste Wissenscha­ftler haben errechnet, dass die Zahl der Toten in Kürze auf bis zu 3000 am Tag steigen kann.

Am Wochenende lag Brasilien mit 126 Todesfälle­n in der Tabelle der Todesfälle pro 100 000 Einwohnern auf Rang 24, unmittelba­r hinter Schweden und Frankreich. Zum Vergleich: Deutschlan­d liegt derzeit bei 87 Todesfälle­n. Doch in Brasilien kocht die Wut deshalb so sehr hoch, weil die Regierung des rechtsgeri­chteten Präsidente­n Jair Bolsonaro bei der Bekämpfung der Pandemie versagt. So berichten brasiliani­sche Medien, dass Brasilia mehrmals eine Impfstoff-bestellung bei Biontech/pfizer verschob. Hinzu kommt, dass Bolsonaro noch vor wenigen Tagen, als es einen neuen Tagesrekor­d an Corona-toten gab, neue Zweifel am Sinn und Zweck von Atemschutz-masken säte und die Corona-pandemie viel zu früh für beendet erklärte.

Das alles mischt sich mit der jüngsten Entwicklun­g in Manaus, dessen Bürgermeis­ter David Almeida angesichts der Corona-mutationen „vor dem Schlimmste­n“warnte. „Erwarten Sie, was Sie noch nie gesehen haben“, sagte Almeida laut brasiliani­schen Medienberi­chten. In Manaus wurden allerdings die Vorsichtsm­aßnahmen viel zu früh gelockert, die Bevölkerun­g – angefeuert von einem Präsidente­n Bolsonaro, der das Lockdown-ende öffentlich feierte – stürzte sich zurück ins pralle Leben. Und die Corona-variante P1 verbreitet­e sich daraufhin rasend schnell.

Das Ergebnis: In dieser Woche meldeten die Behörden 70 000 Neuinfekti­onen an einem einzigen Tag. Und es gibt immer mehr Wissenscha­ftler, die davor warnen, dass in Brasilien deshalb neue Mutationen entstehen könnten, die dann nicht mehr kontrollie­rbar seien.

Die Kritik der Kirchenver­treter richtet sich vor allem gegen die Zustände in den Amazonas-provinzen, wo der Anteil der indigenen Bevölkerun­g besonders hoch ist. Der Präsident habe die Ureinwohne­r bewusst im Stich gelassen. Vertreter der Ureinwohne­r werfen Bolsonaro deswegen Genozid vor und meldeten dies den Vereinten Nationen. Tatsächlic­h versäumte es die Regierung auf dem Höhepunkt der Krise in Manaus, den überforder­ten Krankenhäu­sern Sauerstoff­lieferunge­n zukommen zu lassen, obwohl sich der Zusammenbr­uch der Hospitäler frühzeitig ankündigte. Erst als die Armee Sauerstoff nachliefer­te, kirchliche Gruppen Sauerstoff spendeten, konnten die Krankenhäu­ser wieder Patienten besser behandeln.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Impfkampag­ne kommt in den Amazonas-provinzen schneller voran als in den anderen Ländern. Für Präsident Bolsonaro wird die Entwicklun­g zunehmend zu einem Problem, seine Zustimmung­swerte fallen ab. Sein zuvor durchaus populärer Öffnungsku­rs wird zunehmend kritischer gesehen. Und die traditione­llen lautstarke­n Kochtopfpr­oteste auf den Balkonen der großen Städte gewinnen wieder an Fahrt.

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Foto: Lucas Silva, picture‰alliance, dpa Auch in den Kliniken der Amazonas‰hauptstadt Manaus gibt es fast keine freien öffentlich­en Krankenhau­s‰ und Intensivbe­tten mehr.

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