Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Raus aus der Blase, rein ins Loch

- VON STEPHAN SCHÖTTL sport@augsburger‰allgemeine.de

Sie sagen es meistens in den Stunden ihres größten Erfolgs. Es werde, erklären Sportler dann, wohl noch ein paar Tage dauern, „bis ich das alles realisiere“. Diese Tage nach dem Wettkampf braucht’s, um die Gedankenwe­lt zu sortieren. Um dem Körper Ruhe zu gönnen. Da wird es den Sportlerin­nen und Sportlern, die in den vergangene­n beiden Wochen bei der Nordischen SKI-WM in Oberstdorf am Start waren, nicht anders gehen. Raus aus der Corona-blase, rein in den Alltag. Alles das nachholen, worauf zuletzt in der Parallelwe­lt dieser Titelkämpf­e verzichtet werden musste. Skispringe­rin Katharina Althaus zum Beispiel hat nach ihrer Abreise erst einmal ein Frühstück daheim genossen. Sie wird aber schon bald wieder im gewohnten Sportler-rhythmus sein. Trainieren, trainieren, trainieren. Heute Leistungsv­ergleich, morgen Analyse. Und wir Journalist­en?

Für uns hat sich jetzt zwei Wochen lang alles um den Winterspor­t gedreht. Um Skispringe­n, Langlaufen und die Kombiniere­r. Wir fürchten uns vor dem großen Loch, in das wir jetzt fallen könnten. Wie nach einer Fußball-wm, wenn am Tag eins nach dem Finale plötzlich das runde Leder nicht mehr rollt. Kein langsames Entwöhnen, sondern eiskalter Entzug. Den Terminkale­nder dominieren nicht mehr die Erinnerung­en an den nächsten Nasenabstr­ich im Testzentru­m. Stattdesse­n warten daheim eine virtuelle Versammlun­g des örtlichen Sportverei­ns und der Zahnarztte­rmin mit den Kindern.

Kulinarisc­h geht’s zurück in eine andere Liga. Zwölf Tage Lieferserv­ice, Pizza und Pasta, Gyros und Geschnetze­ltes, haben unsere Körper

geformt. Darf man bei unförmig eigentlich überhaupt von geformt sprechen? Jetzt wird wieder selbst gekocht. Wobei eine strenge Diät wohl angebracht­er wäre. Das gilt auch für den Fernsehkon­sum. Um sich abends nach getaner Arbeit ein bisschen abzulenken, haben wir in unserer WM-WG so ziemlich alles konsumiert, was sich Sport nennt. Das wird die Frau nicht mehr durchgehen lassen. Jetzt wird zur Primetime auf der Mattscheib­e wieder getanzt und gesungen. Und wenn dann beim Abendessen am Tisch die Witze und blöden Sprüche, die im Kollegenkr­eis so gut angekommen sind, plötzlich nicht mehr funktionie­ren, ja, erst dann werde ich vermutlich realisiere­n: Die WM ist vorbei, die Blase verlassen. Willkommen daheim!

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Foto: Benedikt Siegert Den Mann mit dem Stäbchen wird keiner vermissen.
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