Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Diese Aussortierung ist schlicht rassistisch“
Um die Übersetzung eines Gedichts der Us-autorin Amanda Gorman ist ein Streit entbrannt. Der Augsburger Andreas Nohl, selbst Übersetzer amerikanischer Literatur, bezieht dazu eindeutig Stellung
Herr Nohl, sähen Sie sich in der Lage, das Gedicht „The Hill We Climb“von Amanda Gorman ins Deutsche zu übertragen?
Andreas Nohl: Ohne Zweifel.
Obwohl Sie als hellhäutiger Europäer des Jahrgangs 1954 nicht gerade dem Ideal entsprechen, das manche in der Debatte um die Übersetzung des Textes der jungen dunkelhäutigen Us-autorin für geboten erachten?
Nohl: Übersetzen hat mit Zuschreibungen wie alt, jung, schwarz, weiß oder was auch immer nichts zu tun. Es ist ja gerade eine Tätigkeit, in der solche Limitationen überwunden werden. Übersetzen ist eine Vermittlungstätigkeit, und da macht es keinen Sinn, bestimmte Eigenschaften oder Personengruppen ausschließen zu wollen. Sieht man einmal von Leuten ab, die dem Text vorsätzlich einen Harm antun wollen.
Überrascht Sie die Heftigkeit der Debatte?
Nohl: Sie verstört mich ein wenig, denn in meinen Augen ist Literatur eine Äußerungsform, in der wir der herrschaftsfreien Kommunikation am nächsten kommen – oder wie Susan Sontag sagt: „Literatur ist Freiheit.“Das ist ja überhaupt der Grund, warum Menschen schreiben und warum Diktatoren Angst davor haben. In diesem Zusammenhang finde ich solche identitätspolitischen Verengungen, die aus einer fiktiven Empathie scheinbar unangreifbare moralische Ansprüche erheben, wie gesagt, verstörend. Das ist ein Eingriff in die künstlerische Autonomie und hat für mich einen geradezu paternalistischen Sound.
Im Kern wird postuliert, die Person, die sich an die Übersetzung macht, müsse über denselben Erfahrungsraum verfügen wie die Autorin.
Nohl: Ich empfinde das als völlige Fehleinschätzung dessen, was Literatur und was Übersetzen ist. Ein Gutteil der Literatur über Frauen ist von Männern geschrieben worden, denken Sie etwa an die hinreißenden Romane von E. M. Forster. Und Frauen wie George Eliot haben über Männer geschrieben. Es wäre doch hanebüchen, Autorinnen und Autoren diese künstlerische Freiheit nehmen zu wollen. Man kann ja dann gern über das Ergebnis diskutieren und das Werk kritisieren! Aber im Vorfeld gewissermaßen disziplinarisch einzugreifen, halte ich für eine Zumutung, die sich eine aufgeklärte Gesellschaft nicht gefallen lassen darf.
Hatten Sie denn beim Übersetzen schon einmal das Gefühl, dem zu übertragenden Text nicht gerecht werden zu können?
Nohl: Na ja, die Problematik, von der wir hier sprechen, ist mir schon relativ vertraut. Ich habe Bücher übersetzt, die entweder von Rassismus handeln wie Mark Twains „Huckleberry Finn“, ein authentisch antirassistisches Buch, das für junge Schwarze problematisch sein kann. Oder Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“, in dem die rassistische Gesellschaft in den USA um 1860 beschrieben wird. Natürlich zerbricht man sich den Kopf darüber, wie man Rassismen, die sich ungewollt oder aus historischen Gründen in ein Buch eingeschlichen haben, behutsam in eine Sprache wendet, die den Rassismus neutralisiert. Da hatte ich etwa mit dem Problem zu tun, wie sich schwarze Sklaven artikulieren. In Büchern wie den genannten sprechen sie einen starken Slang, der in älteren Übersetzungen oft so klang, als ob da Leute reden, die der menschlichen Sprache nicht mächtig sind. Das habe ich nach einiger Überlegung dadurch verändert, dass ich eine Slang-ähnliche Abschleifung der deutschen Sprache gewählt habe, die aber trotzdem eine intelligente Normalsprache geblieben ist.
Sie halten adäquates Übersetzen aus Ihnen fremden Identitätskontexten also für leistbar.
Nohl: Ja, selbstverständlich. Als Übersetzer muss ich nicht den Erfahrungshorizont des Textes teilen, es kommt vielmehr auf die Zielsprache an, in meinem Fall also das Deutsche. Und darin müssen die Atmosphäre, der Witz, die Wucht, die Verzweiflung oder was immer im Original steht, ästhetisch überzeugend rüberkommen, das ist das Entscheidende. Hemingway war ja auch kein Stierkämpfer.
Liegt in dieser ganzen Debatte nicht überhaupt ein Grundmissverständnis vor: Dass Literatur – auch als Übersetzung – nur dann gelingen kann, wenn der Autor über denselben Erfahrungshorizont verfügt wie das von ihm in Worte Gefasste?
Nohl: Das ist in der Tat eine enorme Verkürzung des kreativen literarischen Prozesses. Wir haben es hier ja nicht mit Kuchenförmchen zu tun, mit denen wir ein Stück Teig ausstetrotzdem
chen und dann fertig backen. Solche Förmchen mag es in ideologischen Debatten geben, wo mit Klischees gearbeitet wird. Ich habe aber leider den Verdacht: Die Klischees, die von den Identitären gebraucht werden, um Menschen zu verunglimpfen, sind mittlerweile auf der anderen Seite, also bei der sogenannten Identitätspolitik angekommen, und nun werden Menschen wie Amanda Gorman auf ihre ethnische Figuration reduziert. Ich finde das erbärmlich. Und eine Übersetzerin anhand von ebensolchen Sekundärmerkmalen auszusortieren, ist in meinen Augen schlicht rassistisch.
Gälte die größtmögliche Übereinstimmung der Identitäten von Autor und Übersetzer als Prinzip, würde das Ihre Branche erheblich limitieren. Dann kämen immer nur ganz wenige Übersetzer in Betracht, eine dunkelhäutige Übersetzerin für einen weißen Autor fiele dann wohl ebenso durchs Raster. Nohl: Denkt man das logisch zu Ende, kommt man auf eine nicht mal binäre, sondern eine völlig einsinnige Welt. Dann dürfte, wie ein Freund von mir scherzhaft formulierte, das Spätwerk von Beethoven nur noch von tauben alten Musikern aufgeführt werden. Ein böser Scherz, gewiss – und auch schon deshalb nicht zutreffend, weil Beethoven nicht zu einer radikal unterdrückten Minderheit gehörte. Aber Künstler sind eigentlich immer eine Minderheit, ich kann mir nicht vorstellen, wie Kunst sonst entstehen soll.
Glauben Sie, dass Fragen der Identität in Ihrem Metier künftig stärker eine Rolle spielen werden?
Nohl: Das kann ich mir vorstellen. An und für sich ist die moralische Sensibilisierung ja auch keineswegs schlecht, sondern begrüßenswert. Denn ohne Zweifel reden wir über grauenhaftes Unrecht, das über Jahrhunderte hinweg geschehen und noch immer strukturell in Gesellschaften verankert ist. Darauf zu reagieren ist gewiss eine bürgerliche Pflicht. Aber man kann Literatur nicht auf diese politische Funktion verkürzen. Sehen Sie, das wunderbare Werk des schwarzen Autors James Baldwin wird nun schon seit Jahren von Miriam Mandelkow ins Deutsche übersetzt. Es wäre doch grotesk, ihr zu sagen, das dürfe sie nicht, weil sie eine Frau ist und, was weiß ich, in Hamburg wohnt.
Und doch, Herr Nohl, dürfte die aktuelle Debatte Sie und Ihre Kollegen in einer Hinsicht erfreuen: Die Übersetzer, sonst meist sträflich übersehen, stehen endlich mal im Rampenlicht. Nohl: Darüber freue ich mich gar nicht. Wenn ich das Rampenlicht bräuchte, hätte ich mir einen anderen Beruf gesucht. Man hat den Beruf ja unter anderem deshalb gewählt, weil man gewissen gesellschaftlichen Zwängen fernbleiben und eher seinen eigenbrötlerischen Neigungen nachgehen will. Wenn das Übersetzen schon mehr ins Rampenlicht geraten soll, wäre es schöner, wenn es dafür einen anderen als diesen moralinsauren Anlass geben würde.
An welcher Übersetzung arbeiten Sie gerade?
Nohl: An einer großen Biografie über Toussaint Louverture, den bedeutenden Haitianer, der als ehemaliger Sklave die dortige Revolution von 1791 anführte und der erste schwarze Gouverneur von Haiti wurde. Der Autor ist selbst eine Person of colour – aus Sicht mancher Leute dürfte ich sein Buch also gar nicht übersetzen.