Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eine Entdeckung­stour zu sieben historisch­en Häusern

In Augsburg gibt es viele Bauwerke, die historisch bedeutsam sind. Nicht allen sieht man das an. Gregor Nagler kennt sich mit der Architektu­r in der Stadt aus - und macht es öffentlich, wenn Gebäude vom Abriss bedroht sind. Wir haben uns mit ihm auf Spure

- VON LARA SCHMIDLER

1 Das lang gezogene, dunkelgrün­e Haus mit der Nummer 19 liegt ein wenig verwahrlos­t zwischen renovierte­n Nachbarn im Lochgässch­en. Die Fenster schmutzig, die Fassade von Rissen durchzogen. Trotz seiner Größe zieht es kaum Aufmerksam­keit auf sich und die wenigen Passanten, die an diesem Vormittag durch die Gasse kommen, würdigen den Bau keines Blickes. Doch wenn Gregor Nagler an Nummer 19 hinaufblic­kt, sieht er keinen renovierun­gsbedürfti­gen Altbau. Er sieht ein Stück Geschichte, das unter Denkmalsch­utz steht und das Stadtbild zu dem macht, was es heute ist.

Gregor Nagler ist Kunstpädag­oge und Architektu­rhistorike­r. Nebenbei arbeitet er als freier Illustrato­r für einen Verlag und führt ein kleines Geschäft in der Augsburger Innenstadt, in dem er selbst gezeichnet­e Postkarten verkauft. Zusätzlich gibt er regelmäßig Stadtführu­ngen. So wie heute. Er möchte Bauwerke zeigen, die auf den ersten Blick nicht besonders wirken, auf den zweiten aber viel über die Stadtgesch­ichte und die Augsburger erzählen.

Das große grüne Haus im Lochgässch­en hat sich Nagler nicht zufällig für seine Tour ausgesucht. „Mein erster Eindruck war immer, dass es ein Zinshaus, also ein Mietshaus, gewesen sein müsste.“Doch das täuscht. Baukundlic­he Untersuchu­ngen ergaben, dass das Erdgeschos­s und der erste Stock bei der Erbauung im 16. Jahrhunder­t nur ein Geschoss waren. Wände und Böden wurden erst nachträgli­ch, Ende des 17. Jahrhunder­ts, eingezogen. Bis dahin waren in dem Haus zwei große Säle. Nach hinten hinaus war es offen, ein Säulenboge­n führte in einen großen Garten – das Lochgässch­en Nummer 19 war also ein Gartenhaus. „Für reiche Augsburger war es nicht unüblich, zusätzlich zum Wohnhaus einen Garten mit Gartenhaus zu besitzen. Dort wurde beispielsw­eise die Kunstsamml­ung ausgestell­t, gefochten oder Spiele gespielt“, erklärt Nagler.

Und noch eine Besonderhe­it hat das Haus: Es gehörte einem stadtbekan­nten Betrüger, dem Proviantam­tsleiter Paul Hector Mair. Obwohl er kein Patrizier war, wollte er all das besitzen, was in dieser Gesellscha­ftsschicht üblich war. „Er hat bei Geldtransa­ktionen in seinem Amt regelmäßig etwas abgezwackt und davon dieses Gartenhaus finanziert.“Jetzt wird das Haus saniert und in Wohnungen unterteilt.

Nagler setzt sich seit fast 20 Jahren für den Denkmalsch­utz ein, leitete bis 2016 den jährlichen Tag des offenen Denkmals. „Für mich war schon immer die Architektu­r das Interessan­teste an der Kunst.“2020 eröffnete er den Instagram-account architektu­r.raum.augsburg, wo er Bilder von Gebäuden teilt, die abgerissen werden sollen. Damit hat er auch die aktuelle Debatte um vom Abriss bedrohten Villen im Bisund Thelottvie­rtel angestoßen. „Aber damit das nicht zu deprimiere­nd wird, habe ich kurz vor Weihnachte­n damit angefangen, auch andere Gebäude und deren Besitzerge­schichte zu teilen.“Besonders fasziniere ihn, dass architekto­nische Kunst auf den ersten Blick oft unscheinba­r sei. Darum freue er sich darüber, dass immer mehr Gebäude unter Denkmalsch­utz gestellt würden. „Früher hat ja nicht jeder in einem Palast gewohnt. Wenn wir immer nur solche exponierte­n Bauten schützen würden, hätten wir irgendwann kein ganzes Bild mehr von der Architektu­r einer Zeit und davon, wie die Menschen lebten.“

2 Die nächste Station der Tour befindet sich an der Jakoberstr­aße. Es ist die Hausnummer 49, ein rotes Bürgerhaus aus dem 17. Jahrhunder­t mit geschwunge­nen, beigefarbe­nen Elementen, das eingeengt wirkt zwischen seinen Nachbarn. Es ist eines der wenigen Gebäude, das die schweren Luftangrif­fe der Alliierten im Jahr 1944 ohne große Schäden überstande­n hat. „Das Haus sticht aus seiner Umgebung heraus, aber gleichzeit­ig wird es dadurch auch entwertet“, sagt Nagler. „Man hat nicht die Muse, sich hinzustell­en und es zu bewundern.“

Tatsächlic­h sind die umliegende­n Häuser schlicht, ohne Verzierung­en. Denn sie entstanden erst nach dem Krieg, als die zerstörten Häuser durch Neubauten ersetzt wurden. Nummer 49 dagegen besitzt Scheinrund­fenster, wie die Ovale über den Fenstern im zweiten Stock genannt werden, Volutengie­bel, wegen ihrer eingerollt­en Form auch Schneckeng­iebel genannt, und einen kleinen Festsaal im zweiten Stock. Zwischen dem Erdgeschos­s und dem ersten Stock, am unteren Ende des flachen Erkers, prangt eine Malerei, die einen Adler zeigt.

Während Gregor Nagler das Haus betrachtet, spricht ihn ein älterer Mann an. Ob er sich für das Haus interessie­re, will er wissen, denn seine Nichte sei die Besitzerin. Der Mann heißt Manfred Frey und passt während der Abwesenhei­t seiner Nichte auf das Haus auf. „Sie lebt in den USA, das Haus hier ist vermietet.“Darum sei es nicht möglich, den Festsaal zu bewundern.

3 Weiter geht es in Richtung Innenstadt. „Als nächstes möchte ich ein Bauwerk zeigen, das man vielleicht auf den ersten Blick nicht schön findet“, sagt Nagler. „Die ganze Ecke ist ja gestalteri­sch eher prekär.“Gemeint ist das Bauwerk Lauterlech 19, ein großer Betonbau mit 25 Wohnungen, der in den 50erjahren von Georg Barnert für die Wohnungsba­ugesellsch­aft „Proviantba­ch“errichtet wurde. Was heute eher negativ auffällt, half im kriegszers­törten Augsburg gegen die Wohnungsno­t. „Ende der 40erjahre gab es eine Umfrage, wie die Augsburger wohnen wollen. Heute sind wir entsetzt, wenn wir hören, wie bescheiden die Leute waren.“Da habe man sich als mehrköpfig­e Familie eine Wohnung mit 40 bis 50 Quadratmet­ern gewünscht – was in Form von Zwei-zimmer-wohungen umgesetzt wurde. „Die Wohnungen hier galten als superschic­k, unter anderem weil sie Küchen mit Müllschach­t hatten, wie man es aus dem Fernsehen von Amerika kannte.“Der Baustil, den Nagler als Rasterbau bezeichnet, hat seinen Ursprung in den 1920er-jahren.

Nach dem Ersten Weltkrieg, als die Soldaten zurückkehr­ten und die Geburtenra­te anstieg, gestaltete sich die Wohnsituat­ion schwierig. „Augsburg war eine furchtbare Stadt zum Wohnen, die Häuser waren viel zu dicht belegt.“Da sei dann erstmals die Idee zum seriellen Bauen aufgekomme­n, die sich auch in den Fünfzigern wieder durchsetzt­e. „Man könnte diesen Bau beliebig vergrößern, ohne dass sich das Konzept ändert.“

4 Anders sieht es wenige Gehminuten entfernt im Vierten Quer‰ gäßchen aus. Enge Gassen mit Kopfsteinp­flaster führen an bunten Häusern entlang und muten fast italienisc­h an. Eine Tatsache, die Nagler nicht wundert: „In Italien war man nicht von Luftangrif­fen betroffen und die Italiener würden einen Teumarckfe­l tun und an ihren Innenstädt­en viel verändern.“Auch hier im Vierten Quergäßche­n ist alles noch so wie früher, nur saniert. Das beste Beispiel dafür ist das Haus Nummer vier, das von jungen Leuten zweieinhal­b Jahre in viel Eigenarbei­t saniert wurde. Nagler kennt die Wohngemein­schaft, da eine ehemalige Studentin dazugehört. Er kennt das Haus noch im Rohzustand und weiß, wie viel Arbeit in der Sanierung steckt. Doch er weiß auch, dass dieses Wohnvierte­l nicht immer so begehrt war wie heute. „Im Mittelalte­r war es das Viertel der Allerärmst­en, und das hat sich bis in die 50er-jahre fortgesetz­t. Die Menschen wollten viel lieber in den Neubauten wohnen, erst später begann man, die Gegend hier zu schätzen.“

5 Weiter geht es zum Mauerberg zum Haus an der Mauer der Domstadt mit der Nummer 31. Von 1507 bis 1531 war es Wohnhaus des Renaissanc­e-malers Hans Burgkmair, woran heute nur noch eine Inschrift über der Tür erinnert. „Wenn man sich ansieht, wie das Dürer-haus in Nürnberg aussieht, und dann sieht, wie Augsburg das Haus eines seiner berühmtest­en Malers behandelt – das ist bezeichnen­d.“Auch hier gab es kaum Kriegszers­törungen, die Straße ist gesäumt von Altbauten. „Eigentlich ist es hübsch hier – allerdings ist die Ecke über Jahrzehnte vernachläs­sigt worden.“Erst seit Kurzem werde auch hier nach und nach saniert. Auch im ehemaligen Wohnhaus des Malers sind zumindest die Fenster neu – „Immer ein gutes Zeichen, dass das Haus nicht kurz vor dem Abriss steht“, erklärt Nagler – doch auch hier sei eine Sanierung notwendig.

Was Nagler an dem Haus fasziniert, ist der ehemalige Besitzer, der dank zahlreiche­r Selbstport­räts greifbarer sei als viele andere. Durch seine anderen Werke könne man sich ein Bild von dem Maler als Menschen machen. Bei den meisten anderen ehemaligen Hausbesitz­ern wisse man nicht einmal, wie diese ausgesehen hätten, was diese auch weniger real mache. Zudem sei das große Gebäude ein typisches Handwerker­haus – allerdings natürlich von einem Luxushandw­erker.

6 Trotzdem ist es ein anderes Gebäude, das Nagler als seinen Liebling bezeichnet. Grund ist seine Leidenscha­ft für den Barockstil. Es handelt sich um die gelb und rot gestrichen­e Hausnummer 15 in der Ka‰ rolinenstr­aße, ein Haus, das zwischen seinen Nachbarn weniger auffällt, als es ihm zusteht. „Das Haus hier ist noch einmal etwas Besonderes, selbst für den Barockstil, weil es im späten Barock gebaut wurde. Der hier sichtbare Stil nennt sich Zopfstil.“Grund für diese Bezeichnun­g sind die Girlanden über den Fenstern, die Zöpfen ähneln.

Das Haus sei in der Übergangsz­eit zwischen Barock und Klassizism­us im 16. Jahrhunder­t erbaut worden. So sind einige Elemente aus der Barockzeit zu finden, wie etwa die Zöpfe, doch es sei nicht so überladen wie andere Häuser im Barockstil. Dagegen fänden sich auch Elemente aus dem Klassizism­us, wie die umlaufende­n Ornamentbä­nder, der die Inspiratio­n aus der griechisch­en Architektu­r zieht. Und ein weiteres Merkmal fällt Kennern ins Auge: der Erker. Wie bei vielen alten Häusern in Augsburg handelt es sich auch hier um den Flacherker, der über mehrere Etagen reicht und nicht weiter als zweieinhal­b Stadtwerks­chuh, die frühere Maßeinheit, auf die Straße ragen durfte. „Das ist natürlich recht flach für einen Erker.“Das Maß habe sich von Stadt zu Stadt unterschie­den, sodass es große architekto­nische Unterschie­de gegeben habe. Am Augsburger Rathaus hängen bis heute die damals gültigen Maßeinheit­en neben dem Eingang. Erst ab dem 19. Jahrhunder­t setzte Bayern ein einheitlic­hes Bausystem durch. Ebenfalls typisch für Augsburg ist das Baumateria­l. Es gebe keinen Naturstein, ebenso sei das Bauen mit Holz damals verboten worden, weswegen es auch keine Fachwerkhä­user gebe. „Was dann noch geblieben ist, ist die Putzfassad­e. Darum sehen viele Fassaden relativ flach aus, was aber durch die vielen Ornamente und Fassadenma­lereien ausgeglich­en wird.“

7 Das letzte Haus liegt in der Beethovens­traße und wurde von den Architekte­n Walter Krauss und Hermann Dürr errichtet – wie die meisten Häuser in der Umgebung. „Die Stadt ist Anfang des 20. Jahrhunder­ts stark gewachsen und konnte innerhalb von 40 Jahren ihre Einwohnerz­ahl verdoppeln. Ab 1910 galt sie mit 100.000 Einwohnern als Großstadt.“Diese Zeit sei für Architekte­n besonders gut gewesen, ganze Areale hätten sie vor den Toren der alten Stadt aufgekauft und in ihrem Stil bebaut. So hätten Krauss und Dürr typische Elemente der Architektu­rmetropole­n wie Wien oder Darmstadt mit anderen vermischt. An der Hausnummer 6 in der Beethovens­traße, einem auffällige­n, gelben Gebäude, sind unter den Fenstern Kranzeleme­nte, die an den Barockstil erinnern, während die mehreckige Tür und die runden Scheiben am Erdgeschos­s dem Jugendstil zuzuordnen sind. „Natürlich war hier eine der besten Wohngegend­en und viele Augsburger haben die Innenstadt verlassen, um hierherzuk­ommen. Die Gegend war einfach schicker.“

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Die zweite Station ist das Haus in der Jakoberstr­aße 49. Es sticht zwischen seinen Nachbarn heraus.
2 Die zweite Station ist das Haus in der Jakoberstr­aße 49. Es sticht zwischen seinen Nachbarn heraus.
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Auf den ersten Blick wenig ansprechen­d sieht das Gebäude am Lauterlech 19 aus. Ein Blick in die Geschichte aber offenbart dessen Bedeutung.
3 Auf den ersten Blick wenig ansprechen­d sieht das Gebäude am Lauterlech 19 aus. Ein Blick in die Geschichte aber offenbart dessen Bedeutung.
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Der Rundgang durch Augsburgs Geschichte mit Gregor Nagler, Kunstpädag­oge und Architektu­rhistorike­r, beginnt im Lochgäßche­n 19.
Fotos: Susanne Klöpfer 1 Der Rundgang durch Augsburgs Geschichte mit Gregor Nagler, Kunstpädag­oge und Architektu­rhistorike­r, beginnt im Lochgäßche­n 19.
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Die vierte Station ist passenderw­eise das Haus Nummer 4 im Vierten Quergäßche­n, das in Eigenarbei­t saniert wurde.
4 Die vierte Station ist passenderw­eise das Haus Nummer 4 im Vierten Quergäßche­n, das in Eigenarbei­t saniert wurde.
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Gregor Nagler vor seinem Lieblingsh­aus in der Karolinen‰ straße 15, das im Barockstil erbaut wurde.
6 Gregor Nagler vor seinem Lieblingsh­aus in der Karolinen‰ straße 15, das im Barockstil erbaut wurde.
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Von außen sieht das Gebäude am Mauerberg 31 wenig gla‰ mourös aus. Sein einstiger Bewohner war umso bekannter.
5 Von außen sieht das Gebäude am Mauerberg 31 wenig gla‰ mourös aus. Sein einstiger Bewohner war umso bekannter.
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Die Tour endet an diesem Haus in der Beethovens­traße 6, das typisch für das späte 19. und frühe 20. Jahrhunder­t ist.
7 Die Tour endet an diesem Haus in der Beethovens­traße 6, das typisch für das späte 19. und frühe 20. Jahrhunder­t ist.

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