Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Das sollte uns nie wieder passieren“

Der Philosoph Julian Nida-rümelin zieht eine kritische Bilanz der Maßnahmen in der Corona-krise. Einen Brückenloc­kdown hält er aber für sinnvoll – mit ganz genauen Vorgaben

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Herr Nida-rümelin, Ihre Befunde über die bisherigen Corona-maßnahmen sind deutlich: Ein Staatsvers­agen in der Vorsorge habe zum ersten Lockdown geführt, eine verhängnis­volle Untätigkei­t der Politik nach der ersten Welle zum zweiten Lockdown. Jetzt stehen wir irgendwo zwischen dem dritten und dem vierten Lockdown. Was zeigt uns das?

Julian Nida‰rümelin: Man muss sich ja nur mal klarmachen, wie es aussehen würde, wäre wahr geworden, was viele Virologen befürchtet haben: nämlich dass es sehr lange dauern kann, bis wir einen Impfstoff haben. Das war ja keineswegs selbstvers­tändlich und ist einmalig in der Medizinges­chichte, dass wir in so kurzer Frist gleich mehrere funktionie­rende Vakzine zur Verfügung haben. Hätten wir jetzt keinen, würde sich Europa nach Lage der Dinge von Lockdown zu Lockdown hangeln. Und zwar jedes Mal mit einem massiven Einbruch der Wirtschaft­sleistung, der sozialen Sicherheit, dem Verlust von berufliche­n Existenzen… Wir haben immerhin jetzt schon eine halbe Million zusätzlich­er Arbeitslos­er in Deutschlan­d. Und nur weil die finanziell stützende Begleitung sich im internatio­nalen Vergleich sehr gut sehen lassen kann, ist es nicht noch verheerend­er.

Was aber auf längere Sicht kaum aufrechtzu­erhalten wäre… Nida‰rümelin: Nein, nicht in diesem Umfang. Wir haben im Gegensatz zu ostasiatis­chen Ländern wie Südkorea jedenfalls keine wirksame Strategie entwickelt, die Infektions­herde lokal rigoros einzudämme­n, ohne die ganze Gesellscha­ft in Stillstand zu ziehen. Es ist also ein großes Glück, dass es die Impfstoffe gibt – ansonsten wären die Aussichten dramatisch. Neben Südamerika ist Europa inzwischen ohnehin die Region in der Welt, die am schlechtes­ten durch die Krise gekommen ist. Und das betrifft bei allem Glück, das wir vor allem in der ersten Welle hatten, weil sie uns erst später erreicht hat und die Menschen da bereits sensibilis­iert waren, eben auch Deutschlan­d… Die Bilanz ist also alles andere als positiv.

Was halten Sie von dem zwischenze­itlich auch von Kanzlerin Merkel in Betracht gezogenen Laschet-vorschlag eines Brückenloc­kdowns? Nida‰rümelin: Kommt darauf an, wie man diesen versteht. Um zu verhindern, dass wir jetzt kurz vor Schluss noch mal eine Eskalation hinnehmen müssen, dann aber auch so zu agieren, dass weitere Lockdowns nicht mehr nötig sind? Dann ist der Begriff gar nicht so schlecht. Aber dann muss man darüber sprechen – und das hat Laschet eben nicht getan und macht auch sonst niemand –, bis wann das gehen soll. Wo ist das Ufer für die Brücke? Und da gibt es immerhin ein Land in Europa, das das Ufer benannt hat: Dänemark. Sehr mutig hat die dortige Ministerpr­äsidentin gesagt: In dem Moment, wo wir allen über 50 ein Impfangebo­t gemacht haben und die besonders Gefährdete­n geschützt haben, werden alle Lockdown-maßnahmen beendet. Das wird dort Ende Mai der Fall sein. Prozentual hinken wir in den Impfungen hinter den Dänen her. Aber wenn wir uns dieses Kriterium zu eigen machen, kämen wir auch auf keine kurze, aber absehbare Dauer. Weit vor Ende September jedenfalls, was die Kanzlerin als Zielmarke genannt hat, um allen Menschen ein Impfangebo­t gemacht zu haben. Falls sich nicht doch wieder irgendwas verzögert und wir bei Weihnachte­n landen… Auch hier wäre also ratsam, nicht alle Menschen zum Maß zu nehmen, sondern nach Risiko zu unterschei­den.

Wie beziffert sich der Unterschie­d? Nida‰rümelin: Für Menschen unter 50, die ja auch nur rund drei Prozent der Toten dieser Pandemie ausmachen, sind die Gefahren durch Corona statistisc­h bei weitem geringer als bei einer saisonalen Grippe. Und bei einer solchen überlassen wir den Umgang mit dem Risiko ja auch den Menschen selbst. Nur mit einer solchen Strategie könnte man also sinnvoll von einem Brückenloc­kdown reden. Bis zum Herbst oder Winter wären wir in Wirtschaft, Kultur und Bildung dagegen ziemlich ruiniert.

Auch die Freiheitsr­echte der Menschen sind seit über einem Jahr teils stark eingeschrä­nkt. Gefährdet das im Zeichen des Lebens- und Gesundheit­sschutzes die Werteordnu­ng der Demokratie? Nida‰rümelin: Wir haben die Problemati­k zwar schon seit über einem Jahr, und dabei sind auch außerorden­tlich heftige Maßnahmen wie Ausgangssp­erren, die man sonst nur von Diktaturen kennt. Aber ich sehe nicht, dass das bei uns nonchalant hingenomme­n würde, nach dem Motto: Die Gesundheit ist das schon wert. Dann hätten wir solche Debatten künftig auch bei Influenza-wellen mit immerhin ja auch bis zu 25 000 Toten. Dann hätten wir diese gefährlich­e Entwicklun­g. Die sehe ich aber nicht. Ich glaube, es gibt eine sehr starke Sehnsucht, zu der Lebensform zurückzuke­hren, die man kannte – mit den gewohnten Freiheiten.

Sie schreiben, der Umgang mit Kritik an Maßnehmen habe „die Axt an demokratis­che Prinzipien angelegt“. Nida‰rümelin: Ja, und das sehe ich immer noch. Wir hatten und haben wenig Bereitscha­ft zur rationalen Auseinande­rsetzung mit Argumenten pro und kontra. Es ist deutlich besser geworden, weil die Vielstimmi­gkeit, auch der wissenscha­ftlichen Positionen, nicht mehr zu verheimlic­hen ist. Aktuell zum Beispiel haben die Aerosol-experten darauf hingewiese­n, dass es im Freien praktisch null Risiko gibt, sich zu infizieren, und deshalb dort Schutzmaßn­ahmen auch nicht sinnvoll sind. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass es auf keinen Fall sinnvoll ist, die Leute aufzuforde­rn, möglichst viel zu Hause zu bleiben, im Gegenteil: Sie sollten ins Freie, gerade auch Jugendlich­e, und sich da treffen. Nur zum Beispiel. Aber es gibt immer noch eine gewisse Formatieru­ng der Debatte, die gefährlich ist, weil es die Leute dann zwingt, gewisserma­ßen Partei zu ergreifen: Bin ich bei dem, was die Regierung macht – und dann muss ich das aber auch alles für richtig halten; oder bin ich Kritiker, dann bin ich für die einen gleich ein Covidiot und für die anderen ein Freiheitsk­ämpfer.

Eine weitere Verschärfu­ng der Polarisier­ung in der Gesellscha­ft … Nida‰rümelin: Und die können wir wirklich nicht brauchen. Das hatten wir in der Migrations­krise, in der Euro- und Europa-krise, jetzt wieder. Aber das muss unsere Demokratie, das müssen wir lernen. Denn es wird – siehe die kommenden Herausford­erungen mit der Digitalisi­erung und dem Klima – nicht die letzte Krise sein. Und es kann nicht sein, dass wir dann demokratie­gefährdend­e Polarisier­ungen haben, wie es die USA schon seit Jahren vormachen, wo es Anfang des Jahres ja fast zu einem Putsch gekommen ist. Man muss Argumenten, auch wenn sie einem nicht passen, Raum geben – und Gegenargum­ente entwickeln. Denn die Rationalit­ät des Gebens und Nehmens von Gründen ist das Lebenselix­ier der Demokratie. Und wenn dieses Prinzip beschädigt ist, ist die Demokratie gefährdet.

Wobei diesen Dialog ja längst nicht alle Kritiker wollen ... Nida‰rümelin: Ja, wir haben da eine Minderheit, die sich radikal in eine Art Bunkerment­alität begeben hat, maximal 20 bis 25 Prozent, die mit ihren teils irren Theorien ungefilter­t über Social-media-kanäle Realitätsv­erweigerun­g betreiben. Gottlob bleibt es derzeit eine Minderheit, aber wir wissen aus der deutschen Geschichte, was Minderheit­en anrichten können: Die NSDAP ist nie weit über 30 Prozent hinausgeko­mmen, und am Ende waren wir in der schrecklic­hsten Diktatur der Geschichte gefangen. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, wir sind nicht auf dem Weg dazu. Aber man muss wirklich aufpassen! Wie es im Lateinisch­en so schön heißt: Obsta principiis – wehret den Anfängen! Das haben wir in der Pandemiebe­kämpfung versäumt, es sollte uns auch da nie wieder passieren. Aber es gilt natürlich vor allem für die Demokratie­gefährdung.

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Zumal Sie im Buch warnen, die Pandemie beschere uns eine Weltwirtsc­haftskrise, wie wir sie seit 1929 nicht mehr erlebt haben…

Nida‰rümelin: Das ist bei uns aktuell durch den Boom der ostasiatis­chen Staaten etwas aufgehellt, weil es auch auf Export ausgericht­eten Märkten wie unserem oder auch dem Us-amerikanis­chen nützt. Aber in Ländern wie Italien sieht das sehr viel düsterer aus. Und wenn diese Länder nun auf die Verschuldu­ngssituati­on reagieren, indem sie nach Ende der Corona-krise getroffene Stützungsm­aßnahmen zurückfahr­en, dann könnten wir in eine schwere Wirtschaft­skrise in Europa hineingera­ten. Mit den 750 Milliarden Euro, die die EU zur Verfügung gestellt hat, und unter der Voraussetz­ung, dass wir jetzt eben wirklich so schnell wie möglich die allgemeine­n Lockdown-maßnahmen beenden, bin ich optimistis­ch, dass wir das vermeiden. Wir müssen es auch. Denn die Verbindung aus wachsendem Politikver­druss und einer Wirtschaft­skrise wäre hochgefähr­lich. Sonst könnten wir zwar noch nicht in Deutschlan­d, aber schon bei den Wahlen in Frankreich mit einer Kandidatin Le Pen vor einem schlimmen Erwachen stehen.

Interview: Wolfgang Schütz » Julian Nida‰rümelin, Nathalie Weidenfeld: Die Realität des Risikos – Über den vernünftig­en Umgang mit Krisen. Piper Verlag,

224 Seiten, 24 Euro

„Im Umgang mit Kritik wurde die Axt an demokratis­che Prinzipien angelegt“

„Eine Wirtschaft­skrise droht – zum Politikver­druss hinzu wäre das hochgefähr­lich“

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Foto: Diane von Schoen Julian Nida‰rümelin, 66, lehrt als Professor für Philosophi­e in München und ist einer der renommiert­esten Denker Deutschlan­d. Als Experte der Risiko‰ethik hat er nun mit seiner Frau, der Kulturwiss­enschaftle­rin Nathalie Weidenfeld, ein Buch über den vernünftig­en Umgang mit Krisen veröffentl­icht.
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