Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Tausende, die fehlen

Fast 80 000 Menschen sind an oder mit dem Coronaviru­s gestorben. Hier erinnern wir an elf von ihnen

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Am Ende waren viele von ihnen allein. Die Ehefrau ohne ihren Mann, der Großvater ohne seine Enkel. Sie sind isoliert gestorben, auf einer Intensivst­ation oder in einem Altenheim irgendwo in Deutschlan­d. Dieses Schicksal teilen mittlerwei­le fast 80 000 Menschen. So viele Männer und Frauen haben in der Bundesrepu­blik ihr Leben durch eine Covid19-erkrankung verloren, sind an oder mit Corona gestorben, wie es so oft heißt. Jeden Tag veröffentl­icht das Robertkoch-institut die Zahl der Corona-toten, die Statistik gehört längst zum täglichen Grundrausc­hen der Pandemie. Doch für Angehörige, Freunde, Bekannte sind die Menschen, die in dieser Zeit gestorben sind, nicht nur Zahlen in einer Statistik. Sie haben ein Gesicht, eine Lebensgesc­hichte. Daran wird an diesem Wochenende an vielen Orten im Land erinnert. In Berlin gedenken Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier, Bundeskanz­lerin Angela Merkel und weitere Politiker in einer offizielle­n Veranstalt­ung der Verstorben­en. Steinmeier hat daneben die Aktion „Lichtfenst­er“ausgerufen: Eine Kerze auf dem Fensterbre­tt soll Symbol für die geteilte Trauer sein. Viele Kirchen planen außerdem Gedenkgott­esdienste, auch in der Region. Wir wollen auf dieser Seite ebenfalls an elf Frauen und Männer erinnern, die an oder mit dem Virus gestorben sind – stellvertr­etend für die zehntausen­den Menschen, die als Partner, Eltern, Großeltern, Kinder, Geschwiste­r, Freunde und Kollegen fehlen.

Für Norbert Fischer sind diese kleinen und großen Gedenkmome­nte wichtig. Gerade weil das Aufzählen der Corona-toten alltäglich geworden sei, brauche es ein gemeinsame­s Erinnern, ein gemeinsame­s Trauern, sagt der Sozialund Kulturhist­oriker, der an der Universitä­t Hamburg lehrt und Trauerkult­ur erforscht. „Es gibt eine große Distanz zu den Corona-toten“, betont Fischer. Weil sie isoliert im Krankenhau­s oder Altenheim sterben, ist ein normaler Abschied nicht möglich. Dazu kommt, dass die Kontaktbes­chränkunge­n ein Trauern in großer Gesellscha­ft nicht erlauben – ein Umstand, der das Abschiedne­hmen in Zeiten der Pandemie für alle Angehörige­n schwer macht, unabhängig davon, ob jemand an einer Covid-19-erkrankung gestorben ist oder an etwas anderem.

Trauerfors­cher Fischer beobachtet das mit Sorge. Er befürchtet einen Rückfall in eine Zeit, in der Tote und der Tod an den Rand der Gesellscha­ft gedrängt wurden. Bis in die 80er Jahre hinein, erläutert der Wissenscha­ftler, sei das Sterben ein Tabuthema gewesen. Erst durch die Hospizbewe­gung und auch die große öffentlich­e Anteilnahm­e für Menschen, die an einer Hiv-erkrankung gestorben sind, sei der Tod enttabuisi­ert worden. Nun, da viele Menschen allein sterben und in kleinstem Kreis zu Grabe getragen werden, stellt Fischer eine Gegenbeweg­ung fest – mit schweren Folgen für die Psyche der Hinterblie­benen. „Menschen trauern, weil sie gesellige Wesen sind“, sagt der Experte. „Sie sind mit anderen Menschen verbunden. Wenn jemand stirbt, dann entfällt auch ein Teil von uns.“Zur Trauer gehöre aber eben auch immer, sich auszutausc­hen: das Treffen mit Angehörige­n oder mit einer Trauergrup­pe, der gemeinsame Leichensch­maus. All das fehlt aktuell. Ein gemeinsame­s Gedenken in vielen Städten und Orten im ganzen Land könne all das nicht vollständi­g ersetzen, betont Fischer – aber das Leiden und Sterben der Corona-toten ein kleines bisschen sichtbarer machen. Sarah Schierack

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