Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Nicht ganz sauber?
Unfähiger Staat? Machtgeile Politiker? Lahme Bürokratie? Fest steht: Die nervösen Oberflächen-befunde in der Corona-krise weisen weit darüber hinaus – und mitten ins System. Doch geht es überhaupt anders? Erkundungen in einem verunsicherten Gemeinwesen
Ein Gespenst geht um in Deutschland, und dieses Gespenst ist nicht mikroskopisch klein, trägt keine Namen wie B.1.1.7 oder B.1.351, kryptische Kürzel, die gleichwohl bald schon jedes Schulkind (sofern der Lernserver nicht gerade zusammenkracht) rückwärts vor sich her sagen kann. Nein, es handelt sich um ein Gespenst, das mindestens genauso gefährlich ist wie genannte Virusvarianten, vielleicht aber gar noch weniger greifbar als diese, nämlich der spürbar sich beschleunigende Vertrauensverlust gegenüber Institutionen, Politik, diesem Gemeinwesen.
Das hat Gründe. Manche sind offensichtlich, manche nicht, manche sind Fehlern geschuldet, manche liegen schlicht im System, um nicht zu sagen: in der Natur der Sache. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie schon in Zeiten vor der Krise existierten, in Zeiten der Krise hingegen diesen nun aber Aufmerksamkeit zuteilwird – und eine große Verunsicherung erwächst. Höchste Zeit für eine Erkundung.
Das System Merkel: Es musste einen schon immer wundern, dass bei den zwei zentralen, stets positiv gemeinten Zuschreibungen der Kanzlerin gegenüber nie so richtig der Widerspruch auffiel: Einerseits das bekannte „auf Sicht fahren“als das ihr eigenes politisches Prinzip, andererseits das der Physikerin stets unterstellte „sie würde die Dinge vom Ende her denken“. Und man fragt sich: Ja was denn nun? Unbekannte Landstraßen im Nebel? Freier Blick auf neues Land? Nebliges Neuland also?
Jedenfalls scheinen die Schlagund Funklöcher, welche Versäumnisse bei der Modernisierung dieses Landes auch immer, die spätestens jetzt jedenfalls in aller Schärfe zutage treten, nicht von ungefähr zu kommen. Jeder Hauch von Zukunftsgerichtetheit blieb in den letzten 16 Jahren Stückwerk, die seltenen, klaren Entscheidungen wie der Atomausstieg, der bekanntlich zuvor von Merkel zurückgenommen wurde, blieben dagegen der Sicht auf Meinungsumfragen beziehungsweise bevorstehenden Landtagswahlen geschuldet (eine abrupte Entscheidung gegen die eigene Entscheidung, die den Steuerzahler im Übrigen zuletzt alleine 2,4 Milliarden Euro an Entschädigung für die Energiekonzerne kostet).
Damit kein Missverständnis aufkommt: Das Krisenaufkommen in globalisierten Welt wuchs in diesen Jahren weiter an, der Zwang, reagieren zu müssen statt agieren zu können, nahm zu. Und mithin ist es vielleicht auch schwieriger geworden, überhaupt einmal „vor die Krise“zu kommen, wie das Norbert Röttgen unlängst einforderte. Gleichwohl wäre es eventuell durchaus möglich gewesen, ein Reformprojekt, eine moderne Vision zu formulieren, das Land „fit für die Zukunft“zu machen, wie es auf Parteitagsreden immer so schön heißt (dabei würde einem die Gegenwart ja schon reichen). In irgendwelchen Brüsseler Nachtsitzungen mag Merkel sich kurzfristig als geschickte, weil wenig müde Managerin des Machbaren erwiesen haben – gerade, weil sie auch den Bürgern auf den ersten Blick nicht viel zumutete.
Der Erfolg dieses von Straßenbegrenzungspfosten zu Straßenbegrenzungspfosten sich tastenden, im doppelten Sinne Verfahrens auf Sicht: 16 Jahre Kanzlerschaft. Die geht nun aber zu Ende, und mit ihr ebenso die Erzählung, gerade weil sie ja nicht mehr zur Wahl stehe, sei sie frei und die beste für diese schwierige Zeit, alleine, weil exponentielles Wachstum – entgegen etwa Richtlinienkompetenz – kein Fremdwort für Merkel ist. Aber ist das so? Am Anfang, in Zeiten akuter Unwissenheit inmitten der aufziehenden Pandemie: vielleicht ja. die Übertragung ihres Brüsseler Prinzips führte zuletzt in der Ministerpräsidentenkonferenz bekanntlich ins Desaster. Aktueller Stand nun: Nach 14 Tagen, in denen sie nicht mehr nur „zuschauen“wollte, womöglich eine bundesweite Notbremse, die keine und zu spät ist, resultierend aus erodierender Durchsetzungsfähigkeit, sodass nun auf den letzten Metern wie so oft der kleinste gemeinsame Nenner reichen muss.
Mit anderen Worten: Was früher Merkels Erfolgsrezept war, nämlich das offenhalten von Entscheidungen, ebenjener kleinste gemeinsame Nenner, Politik als Verwaltungsakt, kann in der Pandemie auf allen Seiten und egal, wie man zu den Maßnahmen gegen Corona steht, nur Enttäuschung produzieren.
Das System Politik: Das alles liegt aber natürlich auch an grundsätzlichen politischen Mechanismen, die eigentlich unschätzbar sind für diese Demokratie: Nämlich, Macht zu erlangen, indem man Mehrheiten erlangt. Und durch diese Rückkopplung auch kollektive Bindungen schafft an Entscheidungen, denn ohne diese kollektiven Bindungen zerfiele dieses Gemeinwesen noch mehr ins Granulare. Man könnte nun unken: Genau das ist jetzt, wo Merkel umso mehr mahnt, je machtloser sie scheint, ihre poteneiner ziellen Nachfolger sich öffentlich fetzen, Querdenker und Besserwisser aller Couleur seit langem eben alles besser wissen, der Fall. Der Fall ist aber vor allem der, dass in dem bislang in der Bundesrepublik noch nie da gewesenen politischen Vakuum – immerhin tritt zum ersten Mal ein amtierender Kanzler freiwillig nicht mehr an – ausgerechnet eine Pandemie stattfindet. Und, neben einigen Landtagswahlen, auch noch die Bundestagswahl. Hier stoßen die unterschiedlichen Systemlogiken, also hier das legitime Ringen um Macht, da das wissenschaftlich in der Pandemie-bekämpfung Notwendige, dort der Ausgleich mit Interessen der Wirtschaft und so weiter hart aufeinander beziehungsweise werden für viele überhaupt zum ersten Mal und kakofonisch anmutend sichtbar.
Insofern verwundert es auch nicht, wie viel Unverständnis, ja Empörung die Auseinandersetzung zwischen Armin Laschet und Markus Söder hervorruft. Doch so erstaunlich es auf den ersten Blick sein mag, dass es in der machtverwöhnten Kanzlerpartei kein geordneteres Verfahren gab, um Merkels Nachfolge zu regeln, so erstaunlich ist doch auch das Erstaunen darüber, dass sich da zwei Politiker um diese und auch mit harten Bandagen bemühen. Es geht ja schließlich nicht um den Schriftführerposten in iraber gendeinem Karnevalsverein, sondern um die Kanzlerkandidatur. Wie gesagt, an Art und Stil dieser Auseinandersetzung mag man ja einiges auszusetzen haben, aber zu sagen, das gehöre sich generell nicht, als handele es sich um unartige Kinder, die zu früh vom Essenstisch bei der Oma aufstehen, argumentiert bloß moralisch, nicht politisch (es sei denn natürlich, man ist der politische Gegner und erhofft sich durch dieses Argument Vorteile im Wahlkampf).
Das System der Medien: Schauplatz dieser Auseinandersetzung ist die Bühne der Öffentlichkeit, sind die Medien, die nicht selten und vor allem im Netz den genannten Empörungsgestus noch verstärken. Doch man darf nicht vergessen: Auch hier herrscht ein harter Wettbewerb, nämlich der um Aufmerksamkeit. Klicks sind eine Währung, und geklickt wird, was polarisiert. Zum Beispiel Karl Lauterbach, der etwa bei Weltonline eine Zeit lang gefühlt schier jeden Text zum Thema Corona zierte, selbst wenn er darin nur mit einem Halbsatz vorkam.
Personalisierung ist das eine, Skandalisierung das andere. Und damit ist nun nicht etwa das notwendige Aufdecken der mindestens unappetitlichen Masken-affäre um Nüßlein, Sauter & Co. gemeint, die auch von unserer Redaktion vorangetrieben wurde – und die zwangsläufig den Vertrauensverlust in Politik zusätzlich beschleunigte (auch wenn es ja nicht nur Nüßleins, Sauters & Co. gibt in der Politik). Aber wenn, wie etwa im Spiegel geschehen, gleich das ganz große „Staatsversagen“ausgerufen und schier das Bild eines Entwicklungslandes gezeichnet wird, so schießt das bei allen offenkundigen und auch klar zu benennenden Defiziten deutlich übers Ziel hinaus. Und ist doch symptomatisch: Das, was funktioniert, ist eben nicht der Rede wert. Und das, was nicht funktioniert, interessiert in normalen Zeiten, in denen das jeweilige Thema nicht im Fokus steht, weil anders als jetzt kaum jemand persönlich betroffen ist (Stichwort Digitalisierung, Homeschooling etc.), nur ein Fachpublikum, es wird kaum nachgefragt. Ein Dilemma also auch hier. Und nun aber plötzlich: Öffentliches Kopfschütteln über faxende Behörden (die das bislang allerdings teils alleine aus Datenschutzgründen tun mussten).
Das System Gesellschaft: Vielleicht kann man es ja gar als eine Art narzisstische Kränkung ansehen in einem Land, in dem die Müllabfuhr immer pünktlich kommt und der Heckenschnitt gesetzlich geregelt ist: Dass das Letzte, auf das man noch stolz sein konnte (nachdem Fußballnationalmannschaft und Autos ausschieden), nämlich eine ordentliche Verwaltung, plötzlich ebenfalls zu enttäuschen scheint. Darin zeigt sich nun der ganze Widerspruch in der Gesellschaft: Auf der einen Seite die Erwartung, möglichst geräuschlos und vor allem gerecht verwaltet zu werden, sowie ein tief sitzendes Denken in Hierarchien, das auch in anderen Bereichen und selbst in Unternehmen zu finden ist, wo ähnlich wie in der Ministerpräsidentenkonferenz operative Angelegenheiten beziehungsweise Details wie eine Maskenpflicht für haushaltsfremde Beifahrer oder Ausnahmen von der Ausgangssperre für Jogger mit Kanarienvogel auf höchster Ebene diskutiert werden. Und auf der anderen, dass jetzt, in der Krise, alles möglichst schnell, pragmatisch und effizient zu gehen habe.
Vielleicht muss also eine Gesellschaft, die – und da sind wir wieder am Anfang – einen bis auf wenige Ausnahmen weitgehend Ruhe garantierenden Regierungsstil wie den von Angela Merkel lange guthieß, nun aufs Neue herausfinden, was sie eigentlich will. Im Rahmen dessen, was möglich ist.