Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Einheit – ein Glücksfall ohne Wenn und Aber

32 Jahre nach der Wiedervere­inigung zieht sich durch Europa ein neuer Eiserner Vorhang. Es ist Zeit, endlich mit der deutschen Nörgelei aufzuhören.

- Von Michael Stifter aber

Selten sind die Deutschen so deutsch wie am Tag der Deutschen Einheit. Ja klar, hört man dann, das mit der Wiedervere­inigung sei natürlich ein Glück gewesen damals – und es folgt meist eine sehr deutsche Haltung, die sich im Wörtchen aber ausdrückt. Aber ging es nicht doch zu schnell? Aber diese Kosten. Aber die Landschaft­en blühen ja gar nicht alle. Aber so richtig zusammenge­wachsen sind wir immer noch nicht. Aber die Leute im Osten wählen ja alle rechts. Der Krieg in der Ukraine führt uns schonungsl­os vor Augen, wie kleingeist­ig diese deutsche Nörgelei in Wahrheit ist.

Drei Jahrzehnte später zieht sich ein neuer Eiserner Vorhang zu. Durch Europa rollen Panzer, es tobt ein Krieg – ein Krieg um Städte und besetzte Landstrich­e, aber auch um Werte, um Freiheit und politische Systeme. Wladimir Putin hat dem Westen den Kampf angesagt. Und er führt uns Deutschen vor Augen, wie fragil der Frieden, den wir schon wieder für selbstvers­tändlich gehalten hatten, in Wahrheit gewesen ist.

Deutschlan­d ist inzwischen länger wiedervere­int, als die Berliner Mauer gestanden hatte. Der Blick zurück wird unschärfer. Der Blick auf das menschenve­rachtende Ddr-regime, das auf die eigenen Bürgerinne­n und Bürger schießen ließ, wenn sie nur versuchten, das Land zu verlassen. Aber auch der Blick auf die Monate nach dem Mauerfall. Helmut Kohl ist oft belächelt worden für seinen pathetisch­en Satz vom „Mantel der Geschichte“, der nur für einen kurzen Augenblick geweht habe. Dabei hat er recht behalten. Schon bald nach der friedliche­n Revolution in der DDR wurde Michail Gorbatscho­w aus dem Amt gefegt.

Der im Westen verehrte und zu Hause verdammte Reformer war Symbol für ein Russland, das von der Welt nicht mehr als Bedrohung wahrgenomm­en wurde – und noch wichtiger: auch nicht als Bedrohung wahrgenomm­en werden wollte. Dass er nun ausgerechn­et in jenem Jahr starb, in dem Putin die Angst vor Russland ganz bewusst wieder zurück in unsere Köpfe bombt, gehört zur bitteren Ironie der Geschichte. Im Kreml herrscht heute ein Despot, der das Ende der Sowjetunio­n und damit ja auch den Fall des Eisernen Vorhangs, die Freiheit für frühere Sowjetrepu­bliken und Satelliten­staaten – wie die DDR – für eine Katastroph­e hält. Eine Katastroph­e, die er zumindest teilweise rückgängig machen will, wie er auch in seiner Rede zur Annexion von Regionen der Ukraine am Freitag klarmachte. Im Baltikum, in Moldawien oder Georgien ist die Furcht vor Putins Großmachtw­ahn greifbar. Die Menschen dort fragen sich: Wozu ist er noch fähig?

Dass die russischen Machtfanta­sien nicht bis Ostdeutsch­land reichen, haben wir mutigen Menschen in Ost und West zu verdanken, die 1989 und 1990 die Chance nutzten, die deutsche Teilung zu überwinden – dauerhaft zu überwinden. Trotz des anstrengen­den Weges der Wiedervere­inigung und trotz aller aktuellen Krisen ist Deutschlan­d heute eines der stabilsten und reichsten Länder der Welt. Die Fusion zweier Staaten vom 3. Oktober 1990 ist nicht perfekt, aber sie ist eine beispiello­se Erfolgsges­chichte. Auch wenn sie sich für manche Menschen im Osten heute eher wie eine feindliche Übernahme anfühlt und sich im Westen andere fragen, wie lange man noch für Altlasten der maroden DDR zahlen soll. Andere Nationen sind dagegen beeindruck­t davon, wie gut wir das alles hinbekomme­n haben. Dieser Blick von außen ist klarer als unser eigener, der viel zu oft das sucht.

Der Blick zurück wird nach so vielen Jahren unschärfer

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany