Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Nachkriegsgeschichte musikalisch: vom Jazz zu „Freiheit“
„Made in West Germany“ist mehr als nur ein Liederabend. In der Uraufführung im Sensemble Theater geht es auch um die Gesellschaft und die Politik – vom modernen Patriarchat zur Studentenrevolte.
Mit einem Liederabend eröffnet das Sensemble Theater die neue Saison. Zum Tag der Deutschen Einheit hin heißt es „Made in West Germany“. Es ist damit das Gegenstück zu „Born in the GDR“, das vor 3 Jahren im Sensemble zum 30. Jahrestag des Mauerfalls zu sehen war. Nun wird der Blick auf den Mauerfall von der westlichen Seite aus gerichtet. Was ist da in den Nachkriegsjahren, in den Jahren der Trennung in Deutschland geschehen? Was war im Westen los?
Die Inszenierung tippt erst einmal lustvoll Klischees an, etwa „Deutschland, einig Fußballland“, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, um das gleich wieder zu brechen. „Jetzt sind wir wieder wer.“Und gleich schwingen die deutschen Kriegsverbrechen mit, die in den 1950er Jahren totgeschwiegen werden – ohne das groß zu thematisieren. Immer wieder werden kurz alte Fernsehausschnitte eingespielt, vom Käfer, mit dem dann der wirtschaftliche Aufschwung erklärt wird. Deutschland exportiert, schon in den 1950er Jahren.
Es ist ein wilder Ritt durch die Jahrzehnte. Vom Halbstarken-gefühl mit Peter Kraus’ „Sugarbaby“zur unfassbaren Geschlechter-ungerechtigkeit noch in den 1950er Jahren, als verheiratete Frauen die Zustimmung ihres Ehemanns benötigten, um zum Beispiel arbeiten zu gehen. Unvorstellbar – ebenso, dass das keine Ewigkeit her ist. Auf die Spitze getrieben durch den Song „Egon (Ich hab ja nur aus Liebe zu Dir)“, weil sie da aus Zuneigung zu ihm auch noch das Gläschen zu viel mittrinkt. Da wird das Ideal der aufopferungsvollen Hausfrau ad absurdum getrieben.
Das Ensemble, Daniela Nering, Dörte Trauzeddel, Fred Brunner (auch am Klavier und diversen Instrumenten) sowie Winfried Gropper (auch Schlagzeug), stürzt sich mit Lust in diese westdeutsche Nabelschau. Der Mauerbau ist ein Thema, dann der Vietnamkrieg und die Studentenrevolte und der Tod von Benno Ohnesorg, der einige Teile der 1968er neu über den Umgang mit der Gewalt nachdenken ließ und dann – nach der Pause – fast in logischer Verlängerung in den deutschen Herbst führte. Dazwischen eingelagert das „Frauenzentrumslied“, ein Fundstück, das es auf Youtube nicht zu hören gibt, geschrieben von einer Frankfurter Frauengruppe zur Eröffnung ihres Frauenzentrums in der Eckenheimer Landstraße in Frankfurt. Eine Ausgrabung, die an dem Abend funkelt.
Im zweiten Teil, als es in die 1970er und 1980er Jahre geht, spürt man, wie das Uraufführungspublikum immer stärker mit eigenen Erinnerungen involviert ist. Helmut Schmidt bei einer Ansprache 1977 zum Umgang mit der RAF löst spürbar Beklemmung bei einigen aus. Später finden sich Leute im Publikum, die 1983 an der Menschenkette von Stuttgart nach Neu-ulm teilgenommen haben. Als ein Medley rund um Dieter Thomas Hecks „Hitparade“angestimmt wird, singen die Zuschauerinnen und Zuschauer die Refrains zu „Wunder gibt es immer wieder“, „Tränen lügen nicht“und „Es war Sommer“mit.
Eine neue Ebene zieht Daniela Nering ein, die als Performerin erzählt, wie sie aus dem Osten kam und was Familiennachzug für sie und ihre Mutter hieß: Fremd sein und Heimweh, das unstillbar war, weil der Versuch, wieder von Westberlin nach Ost-berlin einzureisen, an der innerdeutschen Grenze scheiterte. Bei den Bildern zur Wiedervereinigung, hier vor allem aus Ungarn, wird einmal mehr klar, was für ein Ereignis die friedliche Revolution im Osten war. Einer der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte und anrührend – untermalt vom Ensemble mit Müller-westernhagens Lied „Freiheit“.
Die beiden Stunden dieses Abends vergehen wie im Flug. Die Songauswahl ist klug, überraschend und hat nicht nur nach den Hits geschielt, sondern hält auch Überraschungen bereit. Wenn es zum Lindenberg-cover vom „Sonderzug nach Pankow“kommt oder die Knef mit „Ich möchte am Montag mal Sonntag haben“angestimmt wird, ahmen die Darstellerinnen und Darsteller das Timbre nach. Zudem lebt die Musik davon, dass alles live gespielt wird.
Als Kulisse benötigen die Vier nicht viel, im ersten Teil kommen vier Autoreifen zum Einsatz, im zweiten Teil wird es ein wenig gemütlicher im Wirtschaftswunderland, da spendiert man sich ein großes Sofa und staunt Bauklötze, was für Musik plötzlich im Fernsehen gespielt wird. Die Konstante am Abend sind die Kostüme – weißes Shirt und Bluejeans. Bei allem Wechsel quer durch die Jahrzehnte gibt es auch Dinge, die immer passen.
Dazu bietet „Made in West Germany“nicht nur Songs aus der Nachkriegszeit, der Abend tippt auch wichtige politische und gesellschaftliche Entwicklungen an – das Aufbegehren für Gleichberechtigung, Willy Brandts Kniefall in Warschau, das Abdriften der Studentenrevolte in die Gewalt, die Gründung der Grünen, die Friedensdemonstrationen. Das ist schön beobachtet, wird mit Verve gespielt und rührt am Schluss zu Tränen. Langer Applaus und Jubel.
Weitere Termine am 7. und 8., 14. und 15., 21. und 22. sowie 28. und 29. Oktober im Sensemble Theater. Beginn der Vorstellungen jeweils um 20.30 Uhr.
Die beiden Stunden dieses Abends vergehen wie im Flug. Die Songauswahl ist klug.