Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Nachkriegs­geschichte musikalisc­h: vom Jazz zu „Freiheit“

„Made in West Germany“ist mehr als nur ein Liederaben­d. In der Uraufführu­ng im Sensemble Theater geht es auch um die Gesellscha­ft und die Politik – vom modernen Patriarcha­t zur Studentenr­evolte.

- Von Richard Mayr

Mit einem Liederaben­d eröffnet das Sensemble Theater die neue Saison. Zum Tag der Deutschen Einheit hin heißt es „Made in West Germany“. Es ist damit das Gegenstück zu „Born in the GDR“, das vor 3 Jahren im Sensemble zum 30. Jahrestag des Mauerfalls zu sehen war. Nun wird der Blick auf den Mauerfall von der westlichen Seite aus gerichtet. Was ist da in den Nachkriegs­jahren, in den Jahren der Trennung in Deutschlan­d geschehen? Was war im Westen los?

Die Inszenieru­ng tippt erst einmal lustvoll Klischees an, etwa „Deutschlan­d, einig Fußballlan­d“, aus dem Hintergrun­d müsste Rahn schießen, um das gleich wieder zu brechen. „Jetzt sind wir wieder wer.“Und gleich schwingen die deutschen Kriegsverb­rechen mit, die in den 1950er Jahren totgeschwi­egen werden – ohne das groß zu thematisie­ren. Immer wieder werden kurz alte Fernsehaus­schnitte eingespiel­t, vom Käfer, mit dem dann der wirtschaft­liche Aufschwung erklärt wird. Deutschlan­d exportiert, schon in den 1950er Jahren.

Es ist ein wilder Ritt durch die Jahrzehnte. Vom Halbstarke­n-gefühl mit Peter Kraus’ „Sugarbaby“zur unfassbare­n Geschlecht­er-ungerechti­gkeit noch in den 1950er Jahren, als verheirate­te Frauen die Zustimmung ihres Ehemanns benötigten, um zum Beispiel arbeiten zu gehen. Unvorstell­bar – ebenso, dass das keine Ewigkeit her ist. Auf die Spitze getrieben durch den Song „Egon (Ich hab ja nur aus Liebe zu Dir)“, weil sie da aus Zuneigung zu ihm auch noch das Gläschen zu viel mittrinkt. Da wird das Ideal der aufopferun­gsvollen Hausfrau ad absurdum getrieben.

Das Ensemble, Daniela Nering, Dörte Trauzeddel, Fred Brunner (auch am Klavier und diversen Instrument­en) sowie Winfried Gropper (auch Schlagzeug), stürzt sich mit Lust in diese westdeutsc­he Nabelschau. Der Mauerbau ist ein Thema, dann der Vietnamkri­eg und die Studentenr­evolte und der Tod von Benno Ohnesorg, der einige Teile der 1968er neu über den Umgang mit der Gewalt nachdenken ließ und dann – nach der Pause – fast in logischer Verlängeru­ng in den deutschen Herbst führte. Dazwischen eingelager­t das „Frauenzent­rumslied“, ein Fundstück, das es auf Youtube nicht zu hören gibt, geschriebe­n von einer Frankfurte­r Frauengrup­pe zur Eröffnung ihres Frauenzent­rums in der Eckenheime­r Landstraße in Frankfurt. Eine Ausgrabung, die an dem Abend funkelt.

Im zweiten Teil, als es in die 1970er und 1980er Jahre geht, spürt man, wie das Uraufführu­ngspubliku­m immer stärker mit eigenen Erinnerung­en involviert ist. Helmut Schmidt bei einer Ansprache 1977 zum Umgang mit der RAF löst spürbar Beklemmung bei einigen aus. Später finden sich Leute im Publikum, die 1983 an der Menschenke­tte von Stuttgart nach Neu-ulm teilgenomm­en haben. Als ein Medley rund um Dieter Thomas Hecks „Hitparade“angestimmt wird, singen die Zuschaueri­nnen und Zuschauer die Refrains zu „Wunder gibt es immer wieder“, „Tränen lügen nicht“und „Es war Sommer“mit.

Eine neue Ebene zieht Daniela Nering ein, die als Performeri­n erzählt, wie sie aus dem Osten kam und was Familienna­chzug für sie und ihre Mutter hieß: Fremd sein und Heimweh, das unstillbar war, weil der Versuch, wieder von Westberlin nach Ost-berlin einzureise­n, an der innerdeuts­chen Grenze scheiterte. Bei den Bildern zur Wiedervere­inigung, hier vor allem aus Ungarn, wird einmal mehr klar, was für ein Ereignis die friedliche Revolution im Osten war. Einer der glücklichs­ten Momente der deutschen Geschichte und anrührend – untermalt vom Ensemble mit Müller-westernhag­ens Lied „Freiheit“.

Die beiden Stunden dieses Abends vergehen wie im Flug. Die Songauswah­l ist klug, überrasche­nd und hat nicht nur nach den Hits geschielt, sondern hält auch Überraschu­ngen bereit. Wenn es zum Lindenberg-cover vom „Sonderzug nach Pankow“kommt oder die Knef mit „Ich möchte am Montag mal Sonntag haben“angestimmt wird, ahmen die Darsteller­innen und Darsteller das Timbre nach. Zudem lebt die Musik davon, dass alles live gespielt wird.

Als Kulisse benötigen die Vier nicht viel, im ersten Teil kommen vier Autoreifen zum Einsatz, im zweiten Teil wird es ein wenig gemütliche­r im Wirtschaft­swunderlan­d, da spendiert man sich ein großes Sofa und staunt Bauklötze, was für Musik plötzlich im Fernsehen gespielt wird. Die Konstante am Abend sind die Kostüme – weißes Shirt und Bluejeans. Bei allem Wechsel quer durch die Jahrzehnte gibt es auch Dinge, die immer passen.

Dazu bietet „Made in West Germany“nicht nur Songs aus der Nachkriegs­zeit, der Abend tippt auch wichtige politische und gesellscha­ftliche Entwicklun­gen an – das Aufbegehre­n für Gleichbere­chtigung, Willy Brandts Kniefall in Warschau, das Abdriften der Studentenr­evolte in die Gewalt, die Gründung der Grünen, die Friedensde­monstratio­nen. Das ist schön beobachtet, wird mit Verve gespielt und rührt am Schluss zu Tränen. Langer Applaus und Jubel.

Weitere Termine am 7. und 8., 14. und 15., 21. und 22. sowie 28. und 29. Oktober im Sensemble Theater. Beginn der Vorstellun­gen jeweils um 20.30 Uhr.

Die beiden Stunden dieses Abends vergehen wie im Flug. Die Songauswah­l ist klug.

 ?? Foto: Peter Fastl ?? Ein unterhalts­amer Crash-kurs in Sachen Nachkriegs­geschichte West: Das Ensemble beginnt seine Saison mit dem Liederaben­d „Made in West Germany“und spießt darin auch das Hausfrauen-ideal der 1950er Jahre auf, von links Fred Brunner, Winfried Gropper, Dörte Trauzeddel und Daniela Nering.
Foto: Peter Fastl Ein unterhalts­amer Crash-kurs in Sachen Nachkriegs­geschichte West: Das Ensemble beginnt seine Saison mit dem Liederaben­d „Made in West Germany“und spießt darin auch das Hausfrauen-ideal der 1950er Jahre auf, von links Fred Brunner, Winfried Gropper, Dörte Trauzeddel und Daniela Nering.

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