Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Warum sich ein Arzt für Sterbehilf­e engagiert

Ein Mediziner hilft Menschen, sich das Leben zu nehmen. Er erzählt, wieso sie sich dafür entscheide­n – und weshalb er als ehrenamtli­cher Freitodbeg­leiter arbeitet.

- Von Stephanie Knauer

Die Frau öffnet die Tür zum Krankenzim­mer. „Schön, dass Sie da sind, Herr Doktor“, sagt der Patient im Bett. Mit dem Besuch von Dr. Peter Heiser (Name von der

Redaktion geändert) wird sein Wunsch nach einem selbstbest­immten Sterben bald Wirklichke­it. Die Dauerschme­rzen sollen ein Ende haben. Nachdem sein Antrag auf Freitodbeg­leitung bewilligt wurde, führt Dr. Heiser heute mit dem Bettlägeri­gen das zweite Gespräch im Dienst der Deutschen Gesellscha­ft für humanes Sterben – kurz DGHS. Das erste, Grundsätzl­iches abklärende Gespräch, hat bereits ein Jurist übernommen, der ebenfalls für die Organisati­on tätig ist. Der Augsburger Arzt Dr. Heiser betreut den Patienten nun bis zu seinem Tod.

Seit drei Jahren ist der assistiert­e Suizid unter Auflagen wieder gesetzlich gestattet. Ab 2015 war es strafbar gewesen, die Selbsttötu­ng eines anderen geschäftsm­äßig – im juristisch­en Sinne von wiederholt – zu ermögliche­n. Dieses Verbot ist verfassung­swidrig, urteilte im Februar 2020 das Bundesverf­assungsger­icht. Das allgemeine Persönlich­keitsrecht umfasse „als Ausdruck persönlich­er Autonomie ein Recht auf selbstbest­immtes Sterben“. Peter Heiser ist seitdem ehrenamtli­cher Freitodbeg­leiter. Er leitet das Zweitgespr­äch und bereitet den Suizid vor, indem er die Infusion mit dem tödlichen Medikament legt, die aber, so die Bedingung, von dem Sterbewill­igen eigenhändi­g geöffnet werden muss. Aktive Sterbehilf­e ist nach wie vor verboten.

Kann der Suizidwill­ige die Infusion nicht mit den Händen öffnen, greift Dr. Heiser zur Wäscheklam­mer: Damit klemmt er den Infusionss­chlauch ab. Der Patient nimmt dann die Klammer in den Mund und öffnet mit seinen Zähnen die Infusion.

Der bettlägeri­ge Patient, den Dr. Heiser heute besucht, wird die Wäscheklam­mer nicht brauchen. Im Lauf des Gespräches erkundet der Arzt, ob die Voraussetz­ungen für eine Freitodbeg­leitung gegeben sind und wie die Angehörige­n zu dieser Entscheidu­ng stehen. Manche können es akzeptiere­n, andere erst nach einigem Ringen mit sich, erzählt Dr. Heiser. Die meisten verstünden schließlic­h die Entscheidu­ng und unterstütz­ten den Patienten. Einige möchten dabei sein, die Hand halten, manche warten im Nebenraum. Dr. Heiser muss sie auch aufklären, dass nach dem Ableben die Polizei verständig­t werden muss, da der Suizid kein natürliche­r Tod ist. Anfangs gab es ausführlic­he Befragunge­n, denn auch für die Polizisten war das Neuland, erinnert er sich. Inzwischen wissen die Beamten um die Freitodbeg­leitung und gehen sensibler mit der Situation um.

Bei dem Gespräch wird auch das Datum des Freitods festgelegt. Wichtig ist dem Arzt dabei, zu betonen: Der Patient kann von der Einreichun­g seines Antrags bis zu dem Moment des eigenhändi­gen Vollzugs jederzeit abbrechen und seine Suizidabsi­cht widerrufen. Zudem liegen zwischen der Antragstel­lung und dem assistiert­en Suizid gewöhnlich Monate. Zeit, während derer sich der Antragstel­ler noch einmal mit dem Thema auseinande­rsetzen kann und muss. Die DGHS legt nach eigenen Angaben großes Gewicht auf die sogenannte Freiverant­wortlichke­it des Sterbewill­igen. Fünf Voraussetz­ungen müssen – neben einer mindestens sechsmonat­igen Mitgliedsc­haft – gegeben sein, damit ein Antrag bewilligt wird: Die Urteils- und Entscheidu­ngsfähigke­it (Demenz oder schwere psychische Erkrankung­en müssen ausgeschlo­ssen sein), die „Wohlerwoge­nheit“(eventuelle Alternativ­en müssen bekannt sein), die Konstanz und Festigkeit des Suizidwuns­ches, Autonomie und die Tatherrsch­aft: Der Antragstel­ler muss in der Lage sein, den Freitod eigenhändi­g oder -mündig durchzufüh­ren; bis zuletzt hat die Entscheidu­ng zur aktiven Umsetzung des Suizidwuns­ches bei ihm zu liegen.

Eine Demenz oder eine schwerwieg­ende psychische Erkrankung müssen ausgeschlo­ssen sein. Im Zweifelsfa­lle klärt ein psychiatri­sches Gutachten die Entscheidu­ngsfähigke­it. Auch mögliche Alternativ­en zum Freitod müssen bekannt sein. Fremdbesti­mmung ist unbedingt auszuschli­eßen. Es werden auch Anträge abgelehnt, berichtet Dr. Heiser. So wurde die Freitodbeg­leitung eines Tinnitus-patienten schließlic­h verweigert, da Zweifel an Festigkeit und Autonomie des Suzidwunsc­hes aufkamen. Der 73-Jährige verglich sein extremes Ohrgeräusc­h mit einem Güterzug, der 24 Stunden am Tag durch seinen Kopf rase. Sämtliche Therapien waren erfolglos. Dennoch verschob er den Termin mehrmals, auch die Familie suchte zu verhindern. „Nicht ganz ausgereift“sei das gewesen, erinnert sich Dr. Heiser.

Etwa drei- bis viertausen­d Euro werden an Kosten veranschla­gt. Sie decken zum einen den Aufwand der Organisati­on und ihrer Mitarbeite­r, zudem werden mittellose Antragstel­ler dadurch mitfinanzi­ert. „Es wird keiner aus finanziell­en Gründen abgelehnt“, sagt Dr. Heiser. Fünf Gruppen von Suizidwill­igen lernte er im Lauf seines Ehrenamtes kennen: schwer an Krebs oder neurologis­ch Erkrankte, chronische austherapi­erte Schmerzpat­ienten, betagte Menschen mit mehr Leidens- als Lebensmüdi­gkeit, gemeinsam alt gewordene Ehepaare, die zusammen gehen möchten, gerade, wenn einer von ihnen pflegebedü­rftig wird, und Menschen ohne schwerwieg­ende Erkrankung, die begründete Sorge haben, dass sie in absehbarer Zeit hilflos sein werden.

Dr. Heiser erinnert sich an eine 100-Jährige, die im Rollstuhl saß und befand: „Es reicht.“Sie habe ein gutes Leben gehabt, nun werde alles nur noch schwierige­r. Der Arzt erinnert sich an eine 32-Jährige, die querschnit­tsgelähmt war und von der Mutter gepflegt wurde; an das Ehepaar, das sich so sicher war: „Wären Sie nicht gekommen, hätten wir einen anderen Weg gewählt.“Circa 150 Freitodbeg­leitungen vermittelt die DGHS im Jahr an die beteiligte­n Ärzte und Juristen – das ist etwa ein Drittel der Antragstel­ler. Dem stehen ungefähr 100.000 Suizidvers­uche jährlich gegenüber, von denen etwas mehr als neun Prozent tödlich sind. Eine „Welle“von assistiert­en Suiziden, wie sie mancher nach dem Urteil 2020 befürchtet­e, ist also eher unwahrsche­inlich.

Als Dr. Heiser mit einer Kollegin der DGHS zum vereinbart­en Termin wiederkehr­t, sitzen Ehefrau und Sohn des bettlägeri­gen Patienten an seiner Seite. Für beide ist seine Entscheidu­ng kaum zu ertragen, aber sie möchten bei ihm bleiben, sich verabschie­den, bis zuletzt die Hand halten. Manche laden noch zu Kaffee oder Sekt ein, andere haben etwas gekocht; einige sagen letzte Worte, andere schweigen: Jeder geht auf eine andere Weise. Und das ist in Ordnung so, sagt Dr. Heiser. Er legt die Infusion, schließt die Flasche mit dem Medikament an und gibt dem Patienten den Hebel in die Hand. Entschiede­n öffnet der Patient den Mechanismu­s.

Nur eine Minute etwa dauert es, und das Herz steht still. Praktisch niemand zögert mehr in diesem Moment, erinnert sich Dr. Heiser. Lediglich zwei Patienten warteten bisher schweigend noch eine Weile, bevor sie die Infusion zum Laufen brachten. Während seines Berufslebe­ns hat Dr. Heiser viele „scheußlich­e Krankheite­n“erlebt und den Wunsch verspürt, zu helfen. Als Arzt schwor er, sein Leben in den Dienst der Menschlich­keit zu stellen. Das kann für ihn auch bedeuten, ein humanes Sterben zu ermögliche­n.

Einen Gesprächsa­bend zur Sterbehilf­e veranstalt­et das Akademisch­e Forum der Diözese am Donnerstag, 9. Februar. Dabei sollen Standpunkt­e aus Sicht der Palliativm­edizin sowie der Theologie und Ethik vorgestell­t werden. Beginn ist um 19 Uhr im Haus Sankt Ulrich in Augsburg. Referenten sind Prof. Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativm­edizin am Klinikum der LMU München und Präsidenti­n der Deutschen Gesellscha­ft für Palliativm­edizin, und der Augsburger Weihbischo­f und Mitglied des Bayerische­n Ehtikrats, Anton Losinger. Anmeldunge­n unter Telefon 0821/3166-8811 oder per E-mail an akademisch­es-forum@bistum-augsburg.de.

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Foto: Sebastian Kahnert, dpa (Symbolbild) Ein Pfleger hält die Hand einer schwer kranken Frau: Ein Augsburger Arzt hilft Menschen, die nicht mehr weiterlebe­n wollen, beim Suizid.

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