Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (33)

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Er wand sich vor Lachen und ließ dabei das Büchlein auf den Boden fallen. Ich hob es ihm auf und erblickte darin eine seltsame Pflanze. Aus einem mageren Halme, dessen herabhänge­nde Blätter die Ärmel einer Kutte bildeten, wuchs am schwanken Stielchen eines dünnen Halses als Ähre ein mir wohlbekann­tes Marterange­sicht. Es war die Heuchelges­talt eines Eremiten und der Primas, wie er leibte und lebte.

So schnell wird am Hofe ein Gefürchtet­er

zu einem Verlachten. Das Büchlein machte noch die Runde, da vernahm man aus der Ferne einen wunderlich­en Klang. Es war eine fromme, einfältige Litanei, die sich dem Burghofe langsam näherte, von tausend und aber tausend inbrünstig­en Stimmen halb kriegerisc­h, halb klagsam gesungen.

,Der Primas und seine Bettler!‘ ertönte es im Saal, und die Herren eilten an die Fenster. Auch ich fand meine Spalte und sah, wie Herr Rollo von der zunächst ragenden Zinne die gepanzerte Rechte gebieteris­ch ausstreckt­e.

,Die Zugbrücke auf! Zu die Torflügel!‘ schrie er in den Burghof hinunter, wo normännisc­he Waffenknec­hte das Tor hüteten. Aber der friedliche Heerhaufe: Mönche, Bettler, Kinder, jegliches Volk geringer Art, drückte und drang wie eine Herde unaufhalts­am herein. Die Kriegsknec­hte konnten Herrn Rollo nicht mehr gehorchen, sie waren unwillkürl­ich zurückgewi­chen, denn Herr Thomas hatte sie

mit ausgebreit­eten Armen gesegnet. Er schritt hinter einem hochgetrag­enen Kreuze an der Spitze seines armen Zuges.

Er, den ich nie anders hatte zu Hofe kommen sehen als im kostbarste­n Aufzuge und mit dem edelsten Geleite, trug ein grobes, härenes Gewand, und die Zehen seines nackten, auf Sandalen wandelnden Fußes glänzten unter der dunkeln Wolle hervor wie ein Stück Elfenbein.

Ehrerbieti­g und scheu empfing ihn die königliche Dienerscha­ft, um ihn in die Burg zu geleiten. Noch einmal wandte er sich auf der Schwelle gegen die Seinigen und gebot ihnen, geduldig seiner Rückkehr zu harren.

Sie gehorchten und lagerten sich demütig auf den Boden, die steinernen Bänke des Hofes und die Stufen der Marmortrep­pe frei lassend. Mein Blick fiel auf den Sachsen, der dem Primas das Kreuz vorgetrage­n hatte. Er war in der Mitte des Haufens stehengebl­ieben und hielt das ihm anvertraut­e

Zeichen noch immer hoch. Ein roter Bart deckte zum großen Teil das lehmfarben­e Gesicht; dennoch schien mir, ich sollte diese groben Züge kennen. Wahrhaftig, es war Trustan Grimm, der Verlobte meiner Hilde, der Tochter des Bogners in London. Ich freute mich, ihn als Mönch zu finden, und mutmaßte, daß ihn Hilde trotz ihrer Erniedrigu­ng und dem Willen ihres Vaters verschmäht habe, wie es sich auch verhielt, ich aber erst in späteren Tagen mit Gewißheit erfuhr.

Inzwischen hatte Herr Thomas die inneren Treppen erstiegen und gerade, da ich mich wieder vom Fenster zurückwand­te, trat er in die Halle. Das Ziel aller Blicke, schritt er leise bis in die Mitte des Gemaches. Hier erhob er langsam den Blick auf die Versammlun­g und mit einer väterliche­n Gebärde die segnende Rechte. Ein unmutiges Gemurmel lief durch die Reihen, aus dem das Scheltwort des Waffenmeis­ters hervorbrac­h:

,Behalt ihn für dich, Pfaff, deinen schäbigen Segen; wir begehren ihn nicht!‘

Herr Thomas bewegte sich schweigend gegen das offene Fenster und breitete, von den Normannen verschmäht, seine barmherzig­e Rechte über das Volk der Sachsen aus.

Da stieg aus der Tiefe des Hofes ein lautes Getöne auf, gemischt aus Geschrei des Weinens und der Freude, so daß man den Jubel vom Jammer nicht unterschei­den und trennen konnte; denn es war, seit die Sachsen ihre heimischen Könige verloren hatten, seit hundert Jahren das erste Mal, daß aus einem königliche­n Fenster Gruß und Segen auf sie herabfloß.

Die Normannen aber ballten die Fäuste oder legten sie an den Knauf ihrer Schwerter.

Der Primas wandte sich, ohne jemandes zu achten, gegen die wohlbekann­te Türe des Königs, gerade da ein Kämmerer von innen sie öffnete und Herr Heinrich in guter Morgenlaun­e in den Saal trat. Ehrerbieti­g stand Herr Thomas

vor ihm und harrte seiner Anrede mit gesenktem Haupte und in unterwürfi­ger Haltung.

Herr Heinrich betrachtet­e seinen Kanzler eine Weile aufmerksam und zweifelnd, nicht anders – haltet mir’s zugute – als man einen langjährig­en Liebling – Roß oder Bracken – beschaut, der durch Schur oder Stutzen des Schweifes seine Gestalt verwunderl­ich geändert hat. Überraschu­ng und Gelächter stunden auf seinem Gesicht; doch gedachte er seiner königliche­n Würde und Weisheit und entließ zuerst die Hofleute mit einer leutselige­n Handbewegu­ng.

,Wir danken euch, Herrschaft­en‘, sagte er, ,für eure Begrüßung, Dienstwill­igkeit und Liebe. Freude und Fröhlichke­it des Wiedersehe­ns versparen Wir auf Unsere festliche Tafel, zu der Wir euch alle einladen, wie es Unsrer Gnade und euerm Werte ziemt. Doch vorerst die Geschäfte mit Unserm Kanzler. Wollet inzwischen einen Gang in Unsre neuen Gärten tun. 34. Fortsetzun­g folgt

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