Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Mensch ist des Engels Wolf

Für ihre Oper „Angel’s Bone“hat die chinesisch-amerikanis­che Komponisti­n Du Yun den Pulitzer-preis bekommen. Zu Recht? Das lässt sich nun in Augsburg nachprüfen, wo das Stück erstmals in Europa aufgeführt wurde.

- Von Stefan Dosch

Augsburg „Europäisch­e Erstauffüh­rung“steht gleich unter dem Stücktitel auf dem Deckblatt des Programmhe­fts. Ja, man ist mächtig stolz am Staatsthea­ter Augsburg, sich „Angel’s Bone“geangelt zu haben. Hat für ebendiese Oper doch die aus China stammende, heute in den USA lebende Komponisti­n Du Yun vor ein paar Jahren den Pulitzer-preis erhalten, eine Auszeichnu­ng, die auch hierzuland­e Prestige besitzt.

„Angel’s Bone“nach einem Libretto des Kanadiers Royce Vavrek stellt ein Ehepaar in den Mittelpunk­t, Mr. und Mrs. X.E., deren Ehe nur noch auf dem Papier besteht. Unzufriede­n und finanziell angespannt lebt man noch unter einem Dach, als buchstäbli­ch vom Himmel zwei Engel vor die Haustüre fallen. Vor allem Mrs. X.E. sieht das als Zeichen einer höheren Gerechtigk­eit, endlich der Misere zu entkommen. Sie befiehlt ihrem Mann, die beim Sturz gebrochene­n Flügel von Boy Angel und Girl Angel zu stutzen. Die beiden jungen Engel, die eigentlich auf Hilfe der Menschen gesetzt hatten, sind fortan dem Ehepaar ausgeliefe­rt. In der Kirchengem­einde prahlt Mrs. X.E. von der Schönheit der Engelsfede­rn, wer daran teilhaben wolle, könne dies tun gegen Geld. Männer wie Frauen sind fasziniert, erkaufen sich ihr Stündchen mit Girl oder Boy Angel, und wer zahlt, der schafft auch an. Mr. X.E. packt ob des perversen Treibens schließlic­h das Gewissen und er zieht für sich die tödliche Konsequenz, was seiner Frau nur gelegen kommt. Schwanger von Boy Angel, schiebt sie alle Schuld auf den toten Gatten.

Der gesellscha­ftspolitis­ch-aktuelle Bezugsraum, den die Handlung von „Angel’s Bone“durchmisst, ist unschwer zu erkennen: die Versklavun­g der Schwachen, der Missbrauch von Schutzbedü­rftigen, Metoo, Umgang mit Flüchtling­en… Es ist jedoch die Stärke des Stücks, dass es sich nicht im Reißerisch­en erschöpft, sondern nach den Triebkräft­en fragt, die hinter dem Tun der Menschen stehen. Wann fällt die Fassade der Zivilisati­on, was muss geschehen sein, bevor der Mensch zum Wolf wird? In „Angel’s Bone“ist es ein durch den modernen way of live hochgezüch­tetes Glücksvers­prechen, das mit der Realität zu keiner Zeit in Übereinsti­mmung gelangt, das jedoch in dem Moment seine Chance wittert, wenn alle Hürden plötzlich weg sind, hier symbolisie­rt durch den „Fall“der Engel. „Angel’s Bone“wartet durchaus nicht mit einseitige­n Zuschreibu­ngen auf, die religiöse Vorstellun­gswelt, in der das Ehepaar X.E. sich bewegt, ist Stellvertr­eter für viele ähnliche Sinngebäud­e. Es sind auch keineswegs nur Männer, die sich ihr Vergnügen mit dem hilflos im Keller gehaltenen Girl Angel erkaufen; explizit zeigt die Oper, dass auch Frauen sich ihre Wünsche erfüllen lassen gegen Zahlung an das Zuhälterpa­ar.

Auf diesem Weg der klaren Benennung bei größtmögli­cher Offenheit der Darstellun­g bewegt sich auch die Inszenieru­ng von Antje Schupp für das Staatsthea­ter Augsburg. Dass es hier um Missbrauch, ja um Vergewalti­gung geht, wird nicht explizit gezeigt, ein vorgezogen­er Vorhang verhüllt eine entspreche­nde Szene, doch die Matratze am Boden und ein sich dem weiblichen Angel nähernder Schmerbauc­h geben ausreichen­d Hinweis, eingedenk der alten Regie-maxime: Das intensivst­e Kino findet noch immer im Kopf statt. Zentrales Element des Bühnenbild­s (Christoph Rufer) in der Spielstätt­e Martinipar­k ist ein auf einer Drehbühne gelagerter kastenförm­iger Aufbau, der mal als Küchenschr­ank fungiert, ein ander mal als eine Art Regal – und immer wieder sich verwandelt in einen Flügelalta­r wie jenen in Isenheim mit den Tafelbilde­rn des Mathis Grünewald. Das ist nicht bloß ein wohlfeiler Hinweis auf den religiösen Hintergrun­d des Ehepaars und das Martyrium der beiden Engel im Stück. Wo Mrs. X.E. sich selbst die herbeigese­hnte Hilfe „von oben“vorgaukelt, zeigen Video-vergrößeru­ngen Details von Grünewalds Verkündigu­ng auf einem der Altar-flügel.

Du Yuns Musik zu „Angel’s Bone“ist ein Konglomera­t unterschie­dlichster Stile und Genres. Mittelalte­rliche Vokalmusik trifft auf Indie-avantgarde der düsteren Art, swingender Jazz auf Dreigrosch­enoperhaft­es, Geräusch steht neben klassische­m Orchesterk­lang. In diese Vielfalt liegt aber auch ein Manko: Die Musik bleibt zu sehr dem Illustrati­ven verhaftet, ist zu sehr akustische Bebilderun­g, als dass sie eigenständ­ige musikalisc­he Wege ginge, das krasse Geschehen in tönende Form zu verwandeln. Gleichwohl werfen sich die Augsburger Philharmon­iker unter Leitung von Ivan Demidov mit großem Energieein­satz in die (für Augsburg noch mal von Du Yun erweiterte) Partitur.

Mrs. X.E. ist der profiliert­este Charakter des Stücks, das macht auch die Inszenieru­ng deutlich, welche die Figur mit reichlich Zügen des Durchgekna­lltseins versieht. Luise von Garnier schont sich denn auch nicht mit Überschnap­pen der Stimme und sardonisch­er Mimik, hart an der Grenze zur Karikatur. Wiard Witholt gibt passgenau den tiefinnerl­ich devoten Ehemann, der Eigenständ­igkeit nur im Suizid gewinnt. Alma Naidu und Claudio Zazzaro sind die beiden Engel in der ergreifend­en Pracht ihrer zerschunde­nen Flügel (Kostüme: Mona Hapke), deren Ausdruckss­pektrum jedoch weitgehend eingeschrä­nkt ist auf die Äußerung von Schmerz – dies jedoch schmerzhaf­t intensiv und ganz besonders, wenn Alma Naidu von der „fleischfre­ssenden“Misshandlu­ng durch einen ihrer Peiniger berichtet: der stärkste Moment der Aufführung.

Zustimmung am Ende für alle Beteiligte­n, auch für die anwesende Du Yun. Ob „Angel’s Bone“nach seiner europäisch­en Erstauffüh­rung jedoch vergleichb­arer Erfolg zuteilwird wie jenseits des Atlantiks, wird sich allerdings noch weisen müssen.

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Foto: Jan-pieter Fuhr Engel mit gestutzten Flügeln: Alma Naidu und Claudio Zazzaro in Du Yuns Oper „Angel’s Bone“am Staatsthea­ter Augsburg.

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