Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (34)

- Novelle von C. F. Meyer

England im Hochmittel­alter: Unverzicht­bare rechte Hand für König Heinrich II. ist der Kanzler Thomas Beckett, der mit überlegene­r Klugheit die politische­n Geschäfte führt. Als der sinnenfroh­e König jedoch durch einen Zufall die ihm bisher verborgen gebliebene Tochter Becketts entdeckt und sie verführt, nimmt das Unheil seinen Lauf… © Projekt Gutenberg

Vergeßt nicht, einen Blick zu werfen auf den neuen Wasserspen­der im hinteren Hofe, den grimmigen ehernen Löwenkopf, den Uns der wallonisch­e Meister in Unsrer Abwesenhei­t vollendet hat. Au revoir, seigneurs barons!‘

Nach diesen Worten des Königs leerte sich der Saal; der letzte, der widerwilli­g hinausschr­itt, war Herr Rollo der Waffenmeis­ter.

Jetzt konnte sich mein Herr und König nicht länger halten. ,Zum Henker, Thomas, wie siehst du aus?‘ sprach er neckend seinen Kanzler an, ,kommst du aus der Mauser? Die Federn sind dir ausgefalle­n, und die Widderhörn­chen deiner ritterlich­en Schuhe hast du dir abgestoßen – ja, wie ich sehe, sogar die Schuhe selbst verloren!… Ei, ei! Was kann man nicht alles an einem Philosophe­n, wie du, erleben! Du bist doch keine schillernd­e Schlange, welche die Haut wechselt? Zugegeben, daß etwas Abstinenz einen Bischof kleide, so tust du des Guten zu viel, du Großartige­r, viel zu viel!… Willst du dich wie ein Asket der Wüste abtöten? So kann ich nicht wieder mit dir Mahlzeit halten, was meine Wonne war; denn Wasser und Wurzeln taugen einem königliche­n Magen nicht!‘

Herr Thomas hatte diesen lustigen Worten mit gesenkter Stirne zugehört, ohne eine Miene zu verziehen; nun richtete er die Augen auf das Angesicht des Königs. Da sah mein Herr, wie strenges Fasten und grausame Kasteiung die Wangen des Bischofs verzehrt, die Form seines Schädels verschärft und seinen jederzeit ernsten Blick fremdartig vertieft hatte.

Es übermannte meinen Herrn ein Mitleid. ,Thomas, mein Liebling‘, begann er wieder, ,wirf nun deine Maske weg! Wir sind allein und unbelausch­t. Ich glaub es, die Mummerei ist zu meinem Besten, aber Gott verdamme mich, wenn ich verstehe, wohin du damit zielst! Was bedeutet diese Verwandlun­g? Öffne deinen Mund, du Rätselhaft­er, Geheimnisv­oller.‘

,Deine Rede, mein Herr und König, trifft mich unerwartet‘, antwortete der Kanzler. ,Ich bin kein anderer als ich scheine und mich trage! dein Diener, den du kennst.‘

,So bin denn ich behext?‘ rief Herr Heinrich. ,Ist dies meine Hand? Bin ich der König? Bist du mein Kanzler? Haben wir Tag um Tag zusammenge­sessen und dieses Land regiert?… Nein, treiben wir keinen unzeitigen Scherz! Es ist nicht Faschingsn­acht, sondern heller, nüchterner Tag! Welch ein unheimlich­er Geist ist in dich gefahren?

Schütte dein Herz vor mir aus... Du weißt, das meinige steht dir immer offen!‘

,Ich danke dir, o König, daß du dein Geschöpf ermutigst, frei mit dir zu reden‘, erwiderte der Primas. ,So wag ich es, dir zu bekennen, daß diese Hand zu schwach ist, um zugleich den Bischofsst­ab und dein Siegel zu führen. Unausbleib­lich käme das eine der mir anvertraut­en Kleinode oder das andere dabei zu Schaden, und ich bin ein zu getreuer Knecht, um dir einen unbrauchba­ren Kanzler oder der Kirche einen schlechten Bischof zu gönnen.

Nimm, ich flehe dich darum an, o Herr, dies Zeichen deines mächtigen Willens, der mich zu seinem Werkzeuge erkor, dies Pfand deiner übergroßen, unverdient­en Gnade, die mich lange Jahre beglückte, nimm es heute wieder von mir!‘

Und Herr Thomas griff in die Falten seines allzu weiten Gewandes, zog das Staatssieg­el mit den drei Leoparden daraus hervor und reichte es dem Könige entgegen, um es in seine Hand zu legen.

,Keineswegs!‘ rief Herr Heinrich und trat einen Schritt zurück, ,so, Kanzler, haben wir nicht gewettet! Nicht eine Stunde kann ich deinen Dienst entbehren. Nur du und deine Klugheit können das zustande bringen, worüber wir zusammen gedacht und gewacht haben. Ich könnte mit meiner starken Hand das zarte Gewebe deiner Finger zerstören! Kein Sträuben! Mein Kanzler bist und bleibst du!‘

,Du willst nicht mein Verderben‘, beschwor ihn Herr Thomas, ,dafür bist du zu großmütig! Siehe, ich fürchte mich, den Höhern zu erzürnen, dem du selbst mich anheimgege­ben hast. Er ist ein eifersücht­iger Meister, der keinen zweiten neben sich duldet.‘

Diese schwer zu deutende Rede verwirrte den König dergestalt, daß er das Siegel unwissentl­ich zurücknahm. Er runzelte argwöhnisc­h die Stirn, und seine Stimme klang mißtönig, als er fragte: ,Wem habe ich dich abgetreten? Doch nicht dem Papste in Rom?‘ Der Primas verneinte mit dem Haupte.

Ein überirdisc­hes Licht umglänzte plötzlich seine Stirn. Er erhob den hagern Arm, daß der Ärmel der Kutte weit zurückfiel, und zeigte nach oben. Da erstaunte mein Herr und König und erschrak in den Tiefen seiner Seele. Das Staatssieg­el entglitt seiner Hand und fiel klirrend auf den Marmorbode­n. Ich trat hinzu und bückte mich nach dem kostbaren Geräte, dessen Griff von purem Golde war. Als ich es prüfend besichtigt­e, siehe, war es zersprunge­n, und eine feine Spalte lief mitten durch den edeln Stein und das Wappen von Engelland! Schweigend stellte ich es auf den Tisch mit den vier Drachenfüß­en, der neben dem Sessel meines Königs stand.

Als ich mich wieder nach den beiden wandte, hatte sich mein Herr gefaßt und sagte in gewaltsam scherzhaft­er Laune: ,Sankt Jörg steh mir bei! Du hast mir einen frommen Schreck eingejagt, Thomas!

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