Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Beben des Todes
Erst bebt es nachts, dann mittags erneut: Das ganze Ausmaß der Katastrophe an der türkisch-syrischen Grenze ist noch nicht abzusehen. Stündlich steigt die Zahl der Toten. Viele Eingeschlossene versuchen verzweifelt, mit dem Handy Hilfe zu holen. Ein Wettl
Istanbul „Helft uns bitte, holt uns hier raus“, schreit ein Mann in einem Trümmerhaufen in Kahramanmaras. Seine Handykamera zeigt einen zerquetschten Bürostuhl und ein verrenktes Bein in einem engen Hohlraum unter den Trümmern. „Wir bluten, und einer meiner Kollegen macht keinen Mucks mehr“, ruft der Mann und gibt die Adresse des eingestürzten Hauses und die Namen der drei Verschütteten durch.
Wenige Stunden zuvor hatte das schwerste Erdbeben im östlichen Mittelmeerraum seit hundert Jahren große Teile der Südosttürkei und Nordsyriens zerstört. Allein in der Türkei stürzten nach dem Beben der Stärke von bis zu 7,8 in der Nacht zum Montag tausende Wohngebäude in Städten und Dörfern entlang der syrischen Grenze ein. Millionen Menschen leben im türkisch-syrischen Katastrophengebiet, mindestens 3600 wurden tot geborgen, doch die Opferzahl dürfte noch weiter steigen, zumal die Erde weiter bebte. Kurz nach Mittag erschütterte am Montag ein weiterer Erdstoß der Stärke 7,7 die Region. Die Versorgung der Überlebenden mitten im Winter wird schwierig, besonders in den syrischen Flüchtlingslagern und kriegszerstörten Städten wie Aleppo.
Hilferufe wie der Handyappell aus Kahramanmaras fluteten am Montag die sozialen Medien in der Türkei, wo tausende Menschen um Rettungstrupps flehten – manche von ihnen live aus den Trümmern. „Hört uns jemand?“, keucht ein Student in Kahramanmaras zu wackeligen Bildern aus einer Lücke zwischen eingesackten Wänden, die er auf Instagram stellte. „Meine Mutter und ich sind im siebten Stockwerk eingeschlossen, und jetzt läuft Wasser herein.“Verzweifelte Angehörige schickten hunderte Adressen und Anfahrtsskizzen von Einsturzstellen auf Twitter, um Bergungstrupps anzufordern. „Mutter, Mutter, wo bist du?“, schreit ein junger Mann in der Dunkelheit seiner eingestürzten Wohnung in Antakya in sein Handy. Er wurde am Morgen aus den Trümmern geborgen, doch seine Mutter blieb vermisst.
Die Türkei liegt auf der Grenze zwischen zwei tektonischen Platten, die ständig in Bewegung sind, und ist Erdbeben gewohnt. Unglücke wie am Montag hat es
Ein solches Unglück gab es dort seit fast 100 Jahren nicht mehr
jedoch seit fast hundert Jahren nicht mehr gegeben: Einstürze wurden in einem Gebiet von Hatay an der Mittelmeerküste bis zum syrischen Aleppo und von dort bis ins 300 Kilometer entfernte Diyarbakir in der Türkei gemeldet.
Das erste Beben kurz nach 4 Uhr Ortszeit (2 Uhr MEZ) hatte nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine Stärke von 7,7, nach Us-angaben waren es sogar 7,8. Um 13.24 Uhr Ortszeit (11.24 Uhr MEZ) folgte das neue Beben von 7,7, das weitere Gebäude einstürzen ließ. Dazu hielten den ganzen Tag über größere und kleinere Nachbeben an. Mancherorts mussten die Rettungsarbeiten unterbrochen werden. Ein Parlamentsabgeordneter berichtete, in der Stadt Malatya seien mehrere Helfer bei dem zweiten schweren Beben verschüttet worden.
Die Beben vom Montag waren stärker als das Beben, das im Jahr 1999 in der Nähe von Istanbul etwa 20.000 Menschen tötete. Im Jahr 1939 starben im nordostanatolischen Erzincan mehr als 30.000 Menschen bei einem Beben der Stärke 7,8. Für Syrien war der Erdstoß vom Montag das schwerste Beben seit den 1920ern.
Bis zum Abend registrierten die türkischen Behörden mehr als 5600 zerstörte Gebäude und 11.000 Verletzte. Das Epizentrum lag in der Kreisstadt Pazarcik, die etwa 20 Kilometer östlich von Kahramanmaras und etwa 90 Kilometer nördlich der syrischen Grenze liegt. Luftbilder aus Pazarcik zeigten großflächige Zerstörungen in Wohngebieten. Der Rettungsarbeiter Suat Yenipinar in Pazarcik sagte der Nachrichtenplattform Duvar: „Es gibt kaum ein Haus in Pazarcik mehr, das noch steht. Wie viele Gebäude hier eingestürzt sind, kann ich nicht zählen – ich könnte nur zählen, wie viele noch stehen.“
Nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzamtes entlud sich die tektonische Spannung beim ersten Beben am Montagmorgen nur sieben Kilometer unter der Erdoberfläche – bei solchen flachen Beben sind die Schäden häufig größer als bei Erschütterungen tiefer im Erdinnern. Bis zum Nachmittag konnten noch nicht alle Teile des Unglücksgebietes erreicht werden. Mancherorts waren Straßen in den betroffenen Städten und Überlandstraßen wegen Trümmern oder zerstörter Brücken unpassierbar. In der Millionenstadt Gaziantep wurde die 1500 Jahre alte Stadtfestung schwer beschädigt.
Überall im türkischen Katastrophengebiet gruben sich Helfer auf der Suche nach Opfern durch Betonplatten und Baustahl. Erdogan sagte, neben zivilen Helfern seien auch Einheiten der Armee im Rettungseinsatz. Insgesamt suchten demnach 9000 Helfer nach Überlebenden. Zehntausende Zelte und Feldbetten sowie mehr als tausend Feldküchen wurden nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzes bis zum frühen Abend ins Unglücksgebiet gebracht.
Trotz des Hilfseinsatzes klagten viele Betroffene in den sozialen Medien, sie warteten vergeblich auf Unterstützung bei der Suche nach Vermissten. Kritiker werfen den türkischen Behörden vor, Verstöße gegen Bauvorschriften zu ignorieren und damit Menschenleben zu gefährden. Bilder aus einigen betroffenen türkischen Städten zeigten, dass manche Wohnhäuser bei den Beben intakt blieben, während Gebäude unmittelbar daneben völlig zerstört wurden.
Die Behörden riefen die Menschen in den Unglücksgebieten auf, trotz des schlechten Wetters – in Kahramanmaras regnete es bei sechs Grad – nicht in zerstörte Häuser zurückzukehren. Tausende Obdachlose sollen in Sporthallen, Moscheen und öffentlichen Sälen für Familienfeiern untergebracht werden. In den sozialen Medien boten zudem Privatleute an, Erdbebenopfer in ihren Wohnungen aufzunehmen. Der Flughafen in Hatay am Mittelmeer musste wegen schwerer Schäden geschlossen werden, andere Flughäfen in der Region wurden für zivile Flüge gesperrt, um sie für die Ankunft von Helfern und Hilfsgütern freizuhalten. So hat etwa die Kaufbeurer Hilfsorganisation Humedica bereits ein Team ins Zielgebiet geschickt. Trotz des schweren Bebens blieb die Kommunikationsinfrastruktur im türkischen Unglücksgebiet weitgehend unzerstört. Die türkischen Behörden versuchten deshalb, moderne Kommunikationswege für die Rettungsarbeiten einzusetzen. Handynetze und Internet konnten im Katastrophengebiet kostenlos benutzt werden. Das türkische Katastrophenschutzamt veröffentlichte ein Online-formular, mit dem Betroffene staatliche Hilfe anfordern können. Nach dem Beben nahe Istanbul von 1999 war die staatliche Hilfsaktion für die Opfer erst mit mehreren Tagen Verspätung angelaufen, was viele Menschen das Leben kostete.
Auf der türkischen Seite der Grenze bebte die Erde von Adana am Mittelmeer im Westen bis nach Hakkari im äußersten Südosten der Türkei am Dreiländereck mit dem Irak und dem Iran. Insgesamt leben in der Region mehr als 15 Millionen Menschen, das sind knapp 20 Prozent der türkischen Bevölkerung. Einige Städte des Erdbebengebietes beherbergen zudem hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien.
In den betroffenen Gegenden von Syrien leben nach zwölf Jahren Krieg zwar weniger Menschen als auf der türkischen Seite der Grenze, doch leiden sie schon in normalen Zeiten unter Versorgungsmängeln.
Der Syrien-experte Charles Lister vom Nahost-institut in Washington schrieb auf Twitter, in der Wirtschaftsmetropole Aleppo, die zum Herrschaftsgebiet der syrischen Regierung gehört, seien zwei Drittel der Infrastruktur schon vor dem Erdbeben zerstört gewesen. Videos aus Aleppo vom Montag zeigten, wie Gebäude zusammenbrachen. Ähnlich sah es in den Gegenden entlang der türkischen Grenze aus, die von Regierungsgegnern kontrolliert werden. Ein Sprecher der Hilfsorganisation „Weißhelme“meldete sich am Morgen per Video aus dem Rebellengebiet im Nordwesten Syriens. Hinter ihm war eine Straße zu sehen, in der alle Häuser zerstört waren. Die „Weißhelme“helfen normalerweise nach Luftangriffen der Syrer oder Russen. Am Montag waren sie im kalten
Ganze Gebäude brachen auf einmal in sich zusammen
Winterregen nach dem Erdbeben im Einsatz. „Hunderte Menschen sind tot, vielleicht tausende verletzt“, sagte der Helfer mit brechender Stimme. „Viele Familien sind noch unter den Trümmern begraben. Wir brauchen Hilfe.“
In der Rebellenprovinz Idlib, in der drei Millionen Menschen Zuflucht vor der syrischen Regierungsarmee gefunden haben, und in anderen Teilen Nordsyriens wohnten viele Menschen bisher in Zelten, in halb fertigen Häusern oder in den Ruinen zerstörter Gebäude. Viele Unterkünfte hielten dem Beben nicht stand. „Unsere Gesundheitsstationen sind voll mit Verletzten und den Leichen der Todesopfer“, sagte Fadi al-dairi von der Hilfsorganisation Hihfad unserer Redaktion.
Deutschland und mehr als 40 andere Staaten boten der Türkei und Syrien ihre Hilfe an. Darunter finden sich auch Griechenland und Armenien, deren Beziehungen mit Ankara gespannt sind. Die EU mobilisierte zehn Rettungsteams. Auch die Kriegsgegner Ukraine und Russland erklärten, sie seien zur Entsendung von Hilfe nach der Katastrophe bereit.