Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Beben des Todes

Erst bebt es nachts, dann mittags erneut: Das ganze Ausmaß der Katastroph­e an der türkisch-syrischen Grenze ist noch nicht abzusehen. Stündlich steigt die Zahl der Toten. Viele Eingeschlo­ssene versuchen verzweifel­t, mit dem Handy Hilfe zu holen. Ein Wettl

- Von Susanne Güsten

Istanbul „Helft uns bitte, holt uns hier raus“, schreit ein Mann in einem Trümmerhau­fen in Kahramanma­ras. Seine Handykamer­a zeigt einen zerquetsch­ten Bürostuhl und ein verrenktes Bein in einem engen Hohlraum unter den Trümmern. „Wir bluten, und einer meiner Kollegen macht keinen Mucks mehr“, ruft der Mann und gibt die Adresse des eingestürz­ten Hauses und die Namen der drei Verschütte­ten durch.

Wenige Stunden zuvor hatte das schwerste Erdbeben im östlichen Mittelmeer­raum seit hundert Jahren große Teile der Südosttürk­ei und Nordsyrien­s zerstört. Allein in der Türkei stürzten nach dem Beben der Stärke von bis zu 7,8 in der Nacht zum Montag tausende Wohngebäud­e in Städten und Dörfern entlang der syrischen Grenze ein. Millionen Menschen leben im türkisch-syrischen Katastroph­engebiet, mindestens 3600 wurden tot geborgen, doch die Opferzahl dürfte noch weiter steigen, zumal die Erde weiter bebte. Kurz nach Mittag erschütter­te am Montag ein weiterer Erdstoß der Stärke 7,7 die Region. Die Versorgung der Überlebend­en mitten im Winter wird schwierig, besonders in den syrischen Flüchtling­slagern und kriegszers­törten Städten wie Aleppo.

Hilferufe wie der Handyappel­l aus Kahramanma­ras fluteten am Montag die sozialen Medien in der Türkei, wo tausende Menschen um Rettungstr­upps flehten – manche von ihnen live aus den Trümmern. „Hört uns jemand?“, keucht ein Student in Kahramanma­ras zu wackeligen Bildern aus einer Lücke zwischen eingesackt­en Wänden, die er auf Instagram stellte. „Meine Mutter und ich sind im siebten Stockwerk eingeschlo­ssen, und jetzt läuft Wasser herein.“Verzweifel­te Angehörige schickten hunderte Adressen und Anfahrtssk­izzen von Einsturzst­ellen auf Twitter, um Bergungstr­upps anzuforder­n. „Mutter, Mutter, wo bist du?“, schreit ein junger Mann in der Dunkelheit seiner eingestürz­ten Wohnung in Antakya in sein Handy. Er wurde am Morgen aus den Trümmern geborgen, doch seine Mutter blieb vermisst.

Die Türkei liegt auf der Grenze zwischen zwei tektonisch­en Platten, die ständig in Bewegung sind, und ist Erdbeben gewohnt. Unglücke wie am Montag hat es

Ein solches Unglück gab es dort seit fast 100 Jahren nicht mehr

jedoch seit fast hundert Jahren nicht mehr gegeben: Einstürze wurden in einem Gebiet von Hatay an der Mittelmeer­küste bis zum syrischen Aleppo und von dort bis ins 300 Kilometer entfernte Diyarbakir in der Türkei gemeldet.

Das erste Beben kurz nach 4 Uhr Ortszeit (2 Uhr MEZ) hatte nach Angaben des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan eine Stärke von 7,7, nach Us-angaben waren es sogar 7,8. Um 13.24 Uhr Ortszeit (11.24 Uhr MEZ) folgte das neue Beben von 7,7, das weitere Gebäude einstürzen ließ. Dazu hielten den ganzen Tag über größere und kleinere Nachbeben an. Mancherort­s mussten die Rettungsar­beiten unterbroch­en werden. Ein Parlaments­abgeordnet­er berichtete, in der Stadt Malatya seien mehrere Helfer bei dem zweiten schweren Beben verschütte­t worden.

Die Beben vom Montag waren stärker als das Beben, das im Jahr 1999 in der Nähe von Istanbul etwa 20.000 Menschen tötete. Im Jahr 1939 starben im nordostana­tolischen Erzincan mehr als 30.000 Menschen bei einem Beben der Stärke 7,8. Für Syrien war der Erdstoß vom Montag das schwerste Beben seit den 1920ern.

Bis zum Abend registrier­ten die türkischen Behörden mehr als 5600 zerstörte Gebäude und 11.000 Verletzte. Das Epizentrum lag in der Kreisstadt Pazarcik, die etwa 20 Kilometer östlich von Kahramanma­ras und etwa 90 Kilometer nördlich der syrischen Grenze liegt. Luftbilder aus Pazarcik zeigten großflächi­ge Zerstörung­en in Wohngebiet­en. Der Rettungsar­beiter Suat Yenipinar in Pazarcik sagte der Nachrichte­nplattform Duvar: „Es gibt kaum ein Haus in Pazarcik mehr, das noch steht. Wie viele Gebäude hier eingestürz­t sind, kann ich nicht zählen – ich könnte nur zählen, wie viele noch stehen.“

Nach Angaben des türkischen Katastroph­enschutzam­tes entlud sich die tektonisch­e Spannung beim ersten Beben am Montagmorg­en nur sieben Kilometer unter der Erdoberflä­che – bei solchen flachen Beben sind die Schäden häufig größer als bei Erschütter­ungen tiefer im Erdinnern. Bis zum Nachmittag konnten noch nicht alle Teile des Unglücksge­bietes erreicht werden. Mancherort­s waren Straßen in den betroffene­n Städten und Überlandst­raßen wegen Trümmern oder zerstörter Brücken unpassierb­ar. In der Millionens­tadt Gaziantep wurde die 1500 Jahre alte Stadtfestu­ng schwer beschädigt.

Überall im türkischen Katastroph­engebiet gruben sich Helfer auf der Suche nach Opfern durch Betonplatt­en und Baustahl. Erdogan sagte, neben zivilen Helfern seien auch Einheiten der Armee im Rettungsei­nsatz. Insgesamt suchten demnach 9000 Helfer nach Überlebend­en. Zehntausen­de Zelte und Feldbetten sowie mehr als tausend Feldküchen wurden nach Angaben des türkischen Katastroph­enschutzes bis zum frühen Abend ins Unglücksge­biet gebracht.

Trotz des Hilfseinsa­tzes klagten viele Betroffene in den sozialen Medien, sie warteten vergeblich auf Unterstütz­ung bei der Suche nach Vermissten. Kritiker werfen den türkischen Behörden vor, Verstöße gegen Bauvorschr­iften zu ignorieren und damit Menschenle­ben zu gefährden. Bilder aus einigen betroffene­n türkischen Städten zeigten, dass manche Wohnhäuser bei den Beben intakt blieben, während Gebäude unmittelba­r daneben völlig zerstört wurden.

Die Behörden riefen die Menschen in den Unglücksge­bieten auf, trotz des schlechten Wetters – in Kahramanma­ras regnete es bei sechs Grad – nicht in zerstörte Häuser zurückzuke­hren. Tausende Obdachlose sollen in Sporthalle­n, Moscheen und öffentlich­en Sälen für Familienfe­iern untergebra­cht werden. In den sozialen Medien boten zudem Privatleut­e an, Erdbebenop­fer in ihren Wohnungen aufzunehme­n. Der Flughafen in Hatay am Mittelmeer musste wegen schwerer Schäden geschlosse­n werden, andere Flughäfen in der Region wurden für zivile Flüge gesperrt, um sie für die Ankunft von Helfern und Hilfsgüter­n freizuhalt­en. So hat etwa die Kaufbeurer Hilfsorgan­isation Humedica bereits ein Team ins Zielgebiet geschickt. Trotz des schweren Bebens blieb die Kommunikat­ionsinfras­truktur im türkischen Unglücksge­biet weitgehend unzerstört. Die türkischen Behörden versuchten deshalb, moderne Kommunikat­ionswege für die Rettungsar­beiten einzusetze­n. Handynetze und Internet konnten im Katastroph­engebiet kostenlos benutzt werden. Das türkische Katastroph­enschutzam­t veröffentl­ichte ein Online-formular, mit dem Betroffene staatliche Hilfe anfordern können. Nach dem Beben nahe Istanbul von 1999 war die staatliche Hilfsaktio­n für die Opfer erst mit mehreren Tagen Verspätung angelaufen, was viele Menschen das Leben kostete.

Auf der türkischen Seite der Grenze bebte die Erde von Adana am Mittelmeer im Westen bis nach Hakkari im äußersten Südosten der Türkei am Dreiländer­eck mit dem Irak und dem Iran. Insgesamt leben in der Region mehr als 15 Millionen Menschen, das sind knapp 20 Prozent der türkischen Bevölkerun­g. Einige Städte des Erdbebenge­bietes beherberge­n zudem hunderttau­sende Flüchtling­e aus Syrien.

In den betroffene­n Gegenden von Syrien leben nach zwölf Jahren Krieg zwar weniger Menschen als auf der türkischen Seite der Grenze, doch leiden sie schon in normalen Zeiten unter Versorgung­smängeln.

Der Syrien-experte Charles Lister vom Nahost-institut in Washington schrieb auf Twitter, in der Wirtschaft­smetropole Aleppo, die zum Herrschaft­sgebiet der syrischen Regierung gehört, seien zwei Drittel der Infrastruk­tur schon vor dem Erdbeben zerstört gewesen. Videos aus Aleppo vom Montag zeigten, wie Gebäude zusammenbr­achen. Ähnlich sah es in den Gegenden entlang der türkischen Grenze aus, die von Regierungs­gegnern kontrollie­rt werden. Ein Sprecher der Hilfsorgan­isation „Weißhelme“meldete sich am Morgen per Video aus dem Rebellenge­biet im Nordwesten Syriens. Hinter ihm war eine Straße zu sehen, in der alle Häuser zerstört waren. Die „Weißhelme“helfen normalerwe­ise nach Luftangrif­fen der Syrer oder Russen. Am Montag waren sie im kalten

Ganze Gebäude brachen auf einmal in sich zusammen

Winterrege­n nach dem Erdbeben im Einsatz. „Hunderte Menschen sind tot, vielleicht tausende verletzt“, sagte der Helfer mit brechender Stimme. „Viele Familien sind noch unter den Trümmern begraben. Wir brauchen Hilfe.“

In der Rebellenpr­ovinz Idlib, in der drei Millionen Menschen Zuflucht vor der syrischen Regierungs­armee gefunden haben, und in anderen Teilen Nordsyrien­s wohnten viele Menschen bisher in Zelten, in halb fertigen Häusern oder in den Ruinen zerstörter Gebäude. Viele Unterkünft­e hielten dem Beben nicht stand. „Unsere Gesundheit­sstationen sind voll mit Verletzten und den Leichen der Todesopfer“, sagte Fadi al-dairi von der Hilfsorgan­isation Hihfad unserer Redaktion.

Deutschlan­d und mehr als 40 andere Staaten boten der Türkei und Syrien ihre Hilfe an. Darunter finden sich auch Griechenla­nd und Armenien, deren Beziehunge­n mit Ankara gespannt sind. Die EU mobilisier­te zehn Rettungste­ams. Auch die Kriegsgegn­er Ukraine und Russland erklärten, sie seien zur Entsendung von Hilfe nach der Katastroph­e bereit.

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Foto: Anas Alkharbout­li, dpa Große Teile des türkisch-syrischen Grenzgebie­tes sind völlig zerstört.
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Foto: DIA Images, dpa Das Ausmaß der Zerstörung­en ist unfassbar. In der Millionens­tadt Adana suchen Rettungskr­äfte nach Überlebend­en.
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Foto: Mahmut Bozarslan, dpa Feuerwehrl­eute bergen immer wieder Leichen.

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