Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Russland verfügt nach wie vor über eine beachtlich­e Masse an Soldaten“

Am 24. Februar jährt sich der Überfall Russlands auf die Ukraine. Der frühere Vier-sterne-general der Us-army, David Petraeus, bilanziert den bisherigen Konfliktve­rlauf.

- Interview: Jan Dirk Herbermann

General Petraeus, vor knapp einem Jahr, am 24. Februar 2022, überfiel Russland die Ukraine. Was ist für Sie die größte Überraschu­ng in diesem Angriffskr­ieg, den der russische Präsident Wladimir Putin befohlen hat?

David Petraeus: Nun, zunächst einmal sollte ich anmerken, dass ich in einem Interview mit dem Magazin The Atlantic eine Woche vor der russischen Ukraine-invasion vorausgesa­gt habe, dass die Truppen Putins die Hauptstadt Kiew niemals einnehmen, geschweige denn kontrollie­ren würden. Davon abgesehen haben sich die Russen als noch ungeschick­ter erwiesen als vielfach erwartet, und zwar buchstäbli­ch auf der ganzen Linie. In strategisc­her Hinsicht, bei der Planung ihrer Militärkam­pagne, bei der operativen Führung, bei der tatsächlic­hen Umsetzung ihrer Militärakt­ionen, bei der Logistik und bei ihrem schockiere­nden Mangel an taktischem Fachwissen und Training. Zudem haben die Russen ihre Waffen und Kommunikat­ionssystem­e nicht auf einen modernen Stand gebracht. Darüber hinaus haben sie die Fähigkeite­n des ukrainisch­en Militärs, die Entschloss­enheit des angegriffe­nen Volkes und die Unterstütz­ung Kiews durch die USA, andere Nato-länder und westliche Partner, völlig unterschät­zt.

… das sind gravierend­e Fehler …

Petraeus: … abgesehen von diesen Defiziten aber verfügt Russland nach wie vor über eine beachtlich­e Masse an Soldaten, Artillerie, Raketen, Drohnen und anderen Waffensyst­eme. Und natürlich besitzen die Russen viele Rohstoffe, die es ihnen ermögliche­n, Sanktionen und Ausfuhrkon­trollen zu umgehen. Allerdings schaffen sie es nicht, sich den Restriktio­nen völlig zu entziehen.

Haben Putin und seine Generale aus ihrem eigenen Versagen gelernt?

Petraeus: Das ist noch nicht klar. Offen gesagt, sind die Mängel so erheblich, dass sie wesentlich­e Änderungen in der Art und Weise erfordern, wie Russland seine Streitkräf­te ausbildet, trainiert, ausrüstet, organisier­t, strukturie­rt, einsetzt und führt. Einiges von dem, was erforderli­ch ist, ist in der Tat ein echter „kulturelle­r“Wandel, so zum Beispiel die Aufstellun­g eines profession­ellen Unteroffiz­ierskorps oder die Förderung der Eigeniniti­ative auf den unteren Ebenen.

Das ist eine Aufgabe, die Jahre in Anspruch nehmen wird, und nicht kurzfristi­g zu bewerkstel­ligen ist. Sicherlich könnten einige Ausbildung­saufgaben in Monaten erledigt werden, doch scheint Russland nicht bereit zu sein, diese Zeit zu investiere­n.

Wie sehen die wahrschein­lichsten Szenarien für das Ende dieses Krieges aus?

Petraeus: Ich denke, dass der Krieg schließlic­h in einer Verhandlun­gslösung enden wird. Das wird kommen, wenn Russlands Führung erkennt, dass der Krieg weder auf dem Schlachtfe­ld noch an der Heimatfron­t durchzuhal­ten ist. Leider kann ich nicht vorhersage­n, wann diese Bedingunge­n gegeben sein werden.

Was meinen Sie konkret?

Petraeus: Auf dem Schlachtfe­ld haben die Russen wahrschein­lich schon jetzt achtmal mehr Verluste erlitten als die damalige Sowjetunio­n in fast einem Jahrzehnt Krieg in Afghanista­n. An der Heimatfron­t haben die finanziell­en, wirtschaft­lichen und persönlich­en Sanktionen und Handelsbes­chränkunge­n eine Rezession verursacht. Die Strafmaßna­hmen gegen Russland müssen jedoch noch verschärft werden. Wir in den USA und im Westen sollten alles tun, was wir nur irgendwie können, um die Ukraine zu unterstütz­en und den Tag schneller herbeizubr­ingen, an dem Wladimir Putin erkennt, dass der Krieg in der Ukraine und zu Hause in Russland unhaltbar ist.

Das ukrainisch­e Verteidigu­ngsministe­rium warnt, Russland bereite eine neue Großoffens­ive vor, die bereits am kommenden 24. Februar beginnen könnte. Wann rechnen Sie mit einer umfangreic­hen Offensivak­tion einer der beiden Konfliktpa­rteien?

Petraeus: Es hat den Anschein, dass Russland die Voraussetz­ungen für eine neue Offensive im Donbass, möglicherw­eise im Gebiet Luhansk, schafft. Die Streitkräf­te der Ukraine hingegen erhalten westliche Panzer, sie trainieren mit den neuen Systemen und bereiten sich auf eine Gegenoffen­sive irgendwo im Süden des Landes vor. Es ist schwer vorherzusa­gen, wann eine der beiden Offensiven starten wird. Das Wetter wird einen großen Teil dazu beitragen, wann die Befahrbark­eit des Geländes die Operatione­n zulässt.

Nun erwarten die Ukrainer westliche Kampfpanze­r wie den Leopard 2 aus deutscher Produktion und den Us-amerikanis­chen M1A1 Abrams. Kann der Transfer dieser Panzer den Krieg entscheide­nd beeinfluss­en, auch wenn die Russen den Ukrainern bei Truppenstä­rke, Waffen und Ausrüstung weiterhin zahlenmäßi­g überlegen sind?

Petraeus: Das könnte sein. Zumal die Ukrainer ihr gesamtes Land mobilisier­t haben, während die Russen nur teilweise mobilisier­t wurden.

In einem früheren Interview sagten Sie einmal, dass ein Kampfpanze­r „das Kernstück ist, um das herum alles andere aufgebaut wird“. Sind die Ukrainer in der Lage, den Kampfpanze­r in enger Kooperatio­n und Abstimmung mit anderen Truppengat­tungen und Waffensyst­emen einzusetze­n, beherrsche­n sie also das Gefecht der verbundene­n Waffen?

Petraeus: Die Ukrainer trainieren schon seit geraumer Zeit für solche Aufgaben, und ich bin zuversicht­lich, dass sie in der Lage sein werden, „alles zusammenzu­fügen“, das heißt alle Waffen wirksam zur gegenseiti­gen Unterstütz­ung einzusetze­n. Panzer sind kein Relikt der Vergangenh­eit, wenn sie richtig eingesetzt werden. Das heißt, wenn sie zusammen mit Infanterie, Ingenieure­n, Artillerie, elektronis­cher Kriegsführ­ung, Luftabwehr, Minenräume­rn, Drohnen zum Einsatz kommen.

Die Ukrainer sind bereits mit einer breiten Palette verschiede­ner westlicher Waffensyst­eme ausgerüste­t. Welche Herausford­erungen und Risiken ergeben sich aus dieser Vielzahl von Systemen für Logistik, Ausbildung und Einsatzfäh­igkeit der ukrainisch­en Streitkräf­te?

Petraeus: Die Herausford­erungen werden beträchtli­ch sein. Aber die Ukrainer haben außergewöh­nliche Fähigkeite­n in der Mechanik, Informatio­nstechnolo­gie, Anpassungs­fähigkeit und anderen Bereichen bewiesen. Sie können jeden kaputten oder nutzlosen Gegenstand reparieren oder in etwas Nützliches umwandeln.

Befürworte­n Sie den Transfer von Militärflu­gzeugen, Helikopter­n und Raketen?

Petraeus: Ich unterstütz­e die Bereitstel­lung von westlichen Kampfflugz­eugen, Kampfhubsc­hraubern und Raketen mit längerer Reichweite für die Ukraine. Wir waren bisher immer wieder übervorsic­htig.

Seit Beginn des Krieges haben Präsident Putin und sein Regime mit Atomwaffen gedroht. Besteht die Gefahr, dass eine weitere Zunahme der westlichen Waffentran­sfers zu einer unvorherse­hbaren Eskalation des Krieges und schließlic­h zu einem russischen Nuklearsch­lag führen?

Petraeus: Das Risiko ist nicht von der Hand zu weisen; ich glaube jedoch, dass die USA und andere Länder dem Kreml wirksam zu verstehen gegeben haben, dass die Folgen für Russland „katastroph­al“wären. Diese Warnungen haben die Risiken ausreichen­d gemildert.

David Petraeus, 70, gehört zu den bekanntest­en Us-generalen der vergangene­n Jahrzehnte. Der Vier-sterne-general diente mehr als 37 Jahre im Us-militär und war Befehlshab­er der Multi-national-force im Irak. Er hatte das Kommando über das „US Central Command“inne und er führte die Koalitions­truppen in Afghanista­n. Nach seinem Ausscheide­n aus dem Militär übernahm er als Direktor die Leitung des Us-geheimdien­stes CIA. Heute ist Petraeus Partner bei der Investment­firma KKR und Vorsitzend­er des KKR Global Institute.

 ?? David Petraeus rechnet damit, dass der Krieg am Verhandlun­gstisch enden wird. Foto: Epa, Behar Anthony, Pool, dpa ??
David Petraeus rechnet damit, dass der Krieg am Verhandlun­gstisch enden wird. Foto: Epa, Behar Anthony, Pool, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany