Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (35)
Novelle von C. F. Meyer England im Hochmittelalter: Unverzichtbare rechte Hand für König Heinrich II. ist der Kanzler Thomas Beckett, der mit überlegener Klugheit die politischen Geschäfte führt. Als der sinnenfrohe König jedoch durch einen Zufall die ihm bisher verborgen gebliebene Tochter Becketts entdeckt und sie verführt, nimmt das Unheil seinen Lauf… © Projekt Gutenberg
Jetzt aber genug der Überraschungen und Kunststücklein!… Setze dich zu mir, wie immer, und laß uns die trockenen Geschäfte vornehmen.‘
Er warf sich in seinen Stuhl, und ich rückte einen anderen, etwas niedrigeren, aber ebenso reich verzierten für den Kanzler herbei, denselben, auf welchem er immer neben dem König gesessen. Aber Herr Thomas blieb in ehrfurchtsvoller Entfernung vor dem Könige stehen.
,Erhabener Herr, gib mir Zeit und gedulde dich‘, sagte er. ,Ein halbes Leben habe ich gebraucht, um die Verhältnisse und Rechte deines Reiches zu erforschen – wie könnte ich diejenigen der heiligen Kirche, in deren Dienst du mich gestellt hast und der ich lange fremd blieb, ja feindselig entgegenstand, von heute auf morgen erkannt haben? Darum trage mich mit Geduld.‘
,Zur Sache, Thomas, zur Sache!‘ drängte der König. ,Dir ist wohl bewußt, warum ich dich zu meinem Primas gemacht habe! Laß uns nun gemeinsam die geistliche Gerichtsbarkeit aufheben und vernichten.‘
,Du sollst mich geneigt finden‘, antwortete der Bischof nachdenkend. ,Sind doch in meinen Augen diese Rechte, über die hin und her gestritten wird, veränderliche Gestaltungen, wechselnde Formen, irdene Gefäße, tauglich oder untauglich, je nachdem sie den Wein der ewigen Gerechtigkeit rein bewahren oder vergiften. Ich will mich an den Meister selbst wenden mit der Frage, wie er es meine.‘
,Bei wem willst du dich erkundigen, Thomas?‘ lachte der König, ,bei der heiligen Dreifaltigkeit?‘
,In den Evangelien‘, flüsterte Herr Thomas, ,bei Ihm, an dem keine Ungerechtigkeit erfunden wurde.‘
,So spricht kein Bischof!‘ rief Herr Heinrich in ehrlicher Entrüstung, ,so redet nur ein böser Ketzer! Das hochheilige Evangelienbuch gehört auf eine perlengestickte Altardecke und hat nichts zu tun mit dem Weltwesen und der Wirklichkeit der Dinge. Blicke mir ins Auge, Thomas! Entweder willst du mein Feind werden, oder du hast mit unsinnigem Fasten die herrliche Klarheit deines Geistes getrübt. In Kürze: bringe mir die geistliche Gerichtsbarkeit um, Thomas! Dafür, nur dafür habe ich dich auf meinen schönen Stuhl von Canterbury gesetzt. Ich will nicht, indem ich die Frevel meiner Pfaffheit ungerochen lasse, die Blitze des göttlichen Gerichtes auf mich und mein Haus herablenken. Jüngst noch hat ein sächsischer Kleriker das Werk und den Ruhm meines Ahns, des Eroberers, auf der Kanzel rebellisch gelästert und ein normännischer sich an der Unschuld eines Kindes vergriffen.‘
,Herr‘, versetzte der Primas, und seine eingefallene Wange flammte, ,sei gewiß, daß ich die Sünden meiner Kleriker härter ahnde als kein weltliches Gericht tun würde!… Abscheuliche Dinge!… und das Abscheulichste…‘ hier hielt er inne und schloß dann mit sinkender, veränderter Stimme… ,Aufruhr und Empörung gegen deine Ahnen und dich – christliche Könige. Hier erkenne ich den Willen Gottes. Ob er mir aber die in meine Klöster geflüchteten Sachsen ihren Peinigern, deinen Baronen, auszuliefern gebietet, das frag ich mich und zweifle!‘
Jetzt erkannte Herr Heinrich deutlich, daß der Primas ihm die geistliche Gerichtsbarkeit nicht zurückgeben wolle und seinen heiligen Spott mit ihm trieb.
,Ich bin ein Betrogener!‘ schrie er und sprang von seinem Sitze empor.
In diesem Augenblicke begannen die im Burghofe harrenden Sachsen, vielleicht um ihre Besorgnis für den Primas zu beschwichtigen, eine neue Litanei. Sie sangen das siegesgewisse ,Vexilla Dei prodeunt‘.
Da stürzte der schon gereizte Herr Heinrich ans Fenster und blickte hinunter. ,Thomas‘, gebot er, ,heiße die Schächer schweigen, die du hinter deinen Fersen nachziehst. Das Geheul deiner verhungerten Meute ist mir widerlich.‘
Herr Thomas regte sich nicht. ,Mag auch ein Bischof den Armen und Mühseligen verbieten, dem Kreuze zu folgen?‘ fragte er demütig.
Da geriet der König in bleiche Wut. ,Du wiegelst mir die Sachsen auf, Rebell! Verräter!‘ schrie er und tat einen Schritt gegen den Primas. Seine blauen Augen quollen aus den Höhlen, und er griff mit den nervigen Händen in die Luft, als wolle er den ruhig vor ihm Stehenden erwürgen.
Da öffnete sich eine Türe. Frau Ellenor stürzte herein und warf sich, in Tränen aufgelöst, dem Primas zu Füßen.
,Ich bin die größte der Sünderinnen!‘ schluchzte sie, ,und nicht wert, den Staub von deinen Sandalen wegzuküssen, du heiliger Mann!‘
Herr Thomas neigte sich zu ihr und beschwichtigte sie mit milden Worten.
Dieses Schauspiel gab meinem Herrn die verlorene Fassung wieder. Er betrachtete sein zu den Füßen des Bischofs liegendes Weib eine geraume Weile. Dann zuckte er die Achseln, schlug eine Lache auf, wandte den Rücken und verließ die Halle.
An jenem Tage verwundete ein Giftpfeil das Herz König Heinrichs. Erst war der Stich nur klein, und mitunter schien es, als wolle er heilen. 36. Fortsetzung folgt