Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Das sind Verbrechen“: Evangelische Kirche redet über sexuellen Missbrauch
Verantwortliche von Dekanat, Landeskirche und Diakonie diskutierten in Augsburg erstmals öffentlich über die Macht der Pfarrer und das Wegschauen in der Gemeinde.
Das erste Gutachten zu sexuellen Übergriffen in der evangelischen Kirche erschütterte Mitte Januar die Kirchenleitungen. Über 2000 Beschuldigte aus den letzten sieben Jahrzehnten wurden identifiziert. War nicht die evangelische die bessere Kirche? Gibt es auch hier zu viel Pastoralmacht? Und was war der Grund für die schleppende Zuarbeit zur Forschergruppe der Universität Hannover? Vorsichtig und erstmals öffentlich näherten sich Verantwortliche der Bayerischen Landeskirche und der Diakonie jetzt diesen Fragen.
50 Zuhörer und Zuhörerinnen verfolgten die Diskussion im Augustanasaal, zu der das Evangelische Forum Annahof eingeladen hatte. Einig waren sich die Diskutantinnen und Diskutanten: Die Datenbasis der vor zwei Wochen vorgestellten „Forum“-studie war nicht ausreichend. Die 20 Landeskirchen hatten den Forschern nicht alle Personalakten, sondern lediglich rund 4000 Disziplinarakten zur Verfügung gestellt. Demnach wurden ab dem Jahr 1946 rund 1200 Beschuldigte und 2200 „Vorfälle“identifiziert. 226 Fälle spielten sich in Bayern ab.
Landesbischof Christian Kopp, der die Podiumsdiskussion im Publikum verfolgte, nahm auf Anfrage öffentlich Stellung. Es sei zunächst einmal gut, so Kopp, dass es jetzt eine Dokumentation aus Betroffenensicht gebe. Die Disziplinarakten
seien in den Landeskirchen ausgewertet und in Form von ausgefüllten Fragebögen an die Wissenschaftler der Universität Hannover übermittelt worden. Dies habe der Absprache entsprochen. „Für die Studie sollten zunächst nur einzelne Landeskirchen alle Personalakten durchsehen, die
anderen lediglich die Disziplinarakten. Jetzt allerdings ist die Durchforstung aller Akten bei allen Landeskirchen notwendig, das sehe ich auch so.“Ob er damit sofort beginnen werde? „Ich will nicht vorgreifen, aber wir müssen uns jetzt erst mal einigen, mit welcher Systematik wir die Daten
bundesweit einheitlich erfassen, um die Auswertung gewährleisten zu können.“
Frank Kreiselmeier, Dekan der evangelischen Kirche in Augsburg, nannte die „Vorfälle“beim Namen: „Die Studie ist erschütternd. Das sind Verbrechen, so müssen wir das ganz klar sagen.
Wir haben einen geschützten Raum verletzt. Das müssen wir aufarbeiten und auch fragen: Wie ist es mit der Harmonie, wo muss die aufhören?“
Bis 2025 müssen laut Diakonin Marlene Lucke von der Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt der Bayerischen Landeskirche alle Teilkirchen ein präventives Schutzkonzept vorlegen, mit dem auch die Ehrenamtlichen sensibilisiert und geschult werden. Jonas Straßer, Präsidiumsmitglied der Synode des evangelischen Dekanats Augsburg, begrüßt das und fordert generell mehr „Sprachfähigkeit“beim Thema sexuelle Grenzüberschreitung: „Wir müssen darüber reden, denn – machen wir uns nichts vor – es wird auch weiter passieren.“Fritz Graßmann, theologischer Vorstand des Diakonischen Werkes Augsburg, sieht seine Diakonie ebenfalls in der Pflicht. „Auch wenn unsere Jugendarbeit von sich aus bereits etwas weniger frei ist als die kirchliche, weil viele der Jugendlichen bereits Missbrauchserfahrungen haben – wir sind mächtig. Das muss uns klar sein.“
Macht und persönliche Nähe sind für Täter ideale Voraussetzungen, bestätigt auch Trauma-therapeutin Maria Johanna Fath, die seit 2010 Betroffene aus dem Kirchenumfeld betreut. „Religion bringt Nähe, das allein ist schon Gefahr. Hinzu komme die Position des Pfarrpersonals. Was der Pfarrer sagt, ist richtig – das ist Macht und die wird hier missbraucht.“