Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn Bertolt Brecht ein Fitnessstu­dio betreiben würde

Kampfsport, Rap, Lesungen, Turnen, Ausstellun­gen, Club: Hier passiert alles gleichzeit­ig. In das leer stehende Möbelhaus vor den Toren Oberhausen­s ist Brechts Kraftklub eingezogen.

- Von Rosaria Kilian

Eine Yogagruppe macht das Krieger-asana auf dem Parkplatz des ehemaligen Lederle-areals. Auf dem Vordach über dem Eingang zum Möbelhaus steht Philosophi­n Eva von Redecker und spricht in ein silbern glitzernde­s Mikrofon. „Ab jetzt kann die Revolution nur noch auf Muskelkraf­t und unsere Fantasie zählen“, sagt sie. Neben ihr Damian Rebgetz, in Abendkleid mit Fellstola und leuchtend grüner Perücke. Wie schon am Freitag auf der Premiere von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“im Staatsthea­ter moderierte der Musiker und Schauspiel­er die Eröffnung des Kraftklubs und trägt dabei die erfrischen­de Absurdität dieses Mammutproj­ekts vor sich her. Der Leerstand vor den Toren von Oberhausen ist nach einem fulminante­n Auftakt für kurze Zeit der wohl lebendigst­e Ort in Augsburg.

Drei Meter unter von Redecker schlüpfen Festivalle­iter Julian Warner und der Boxer Birkan „Biri“Eksen in den brutalisti­schen Bau. Es riecht nach Popcorn, die Tanzgruppe des Assyrische­n Mesopotami­en Vereins folgt auf drei Alphornblä­ser aus Waltenhofe­n. Vereine aus der Region stellen sich vor, „Turnfest“nennt Warner den Eröffnungs­akt. Syrische Musikerinn­en und Musiker, der Augsburger Rugby-verein, eine Musikgrupp­e der Alevitisch­en Gemeinde, Cheerleade­r, die Voltigiera­bteilung des Augsburger Pferdespor­tvereins. Zwischendu­rch rollen vier Männer in Overalls und Tarnkleidu­ng eine überdimens­ionierte goldene Kugel von der Ladefläche eines rauchenden Pick-ups unter vollem Körpereins­atz in das Gebäude.

Während der Darbietung des Jiu-jitsu-karate-vereins sagt Snewit Aujezdsky, die Pfarrerin der evangelisc­hen Gemeinde in Oberhausen: „Ich hab’s mit dem Sport ja nicht so.“Jene Aujezdsky inspiriert­e Warners zum Kraftklub, sagte er wenige Tage vor dem Festivalst­art gegenüber unserer Redaktion. Wie in „ihrem Viertel“Oberhausen treffen in „Brechts Kraftklub“viele Kulturen aufeinande­r, sagt Aujezdsky. Die Energie der Karatekas habe sich auf sie übertragen: „Tief in mir drin habe ich vielleicht einen eigenen Kraftklub.“

Wie in einem Fiebertrau­m reitet plötzlich Matthias Mühlbauer, der letzte Winnetou aus der ehemaligen Western-city in Dasing, in voller Montur auf einem Pferd vom Senkelbach her über den Parkplatz. „Winnetou! Uns fehlt die Fantasie!“, ruft Damian Rebgetz höchsteuph­orisiert vom Dach der ehemaligen Textilfabr­ik herab. In Brechts Tradition ist hier womöglich das Konstruier­te sichtbar gemacht. Aber bevor die Zuschaueri­nnen und Zuschauer zu lange über den Sinn hinter dem kostümiert­en Mann auf dem Pferd nachdenken können, macht sich die ungleiche Truppe aus Sportlerin­nen, Künstlern und Festivalbe­suchern auf den Weg ins Innere des Gebäudes.

Drinnen trennen schwarze Vorhänge verschiede­ne Bereiche ab. Tanzteppic­he sind da, ein Boxring, eine Bar, ein Bereich mit Fitnessger­äten, im ersten Stockwerk eine Rollschuhb­ahn und Tischtenni­splatten. Alles findet gleichzeit­ig statt. Nicht nur gleichzeit­ig, sondern gemeinsam. Birkan Eksen ist mit zwei Dutzend Athletinne­n und Athleten aus Biris Boxing Gym gekommen. Selbstbewu­sst nehmen sie den Raum ein, auf Eksens scharfes Kommando boxen rund 40 Fäuste in die Luft. Für Brecht war Boxen ein Bild für das moderne Leben, den ewigen Überlebens­kampf, die Abwesenhei­t von Moral. Für Boxer Eksen war „Brecht eine Sportskano­ne.“

Etwas abseits auf der Boxfläche ziehen sich drei Frauen zum ersten Mal in ihrem Leben Boxhandsch­uhe an. Sie haben sich im Vorfeld zu einem Schnupperk­urs angemeldet.

In Mitmachtra­inings und Workshops können Interessie­rte an Brechts Kraftklub teilnehmen. Zeitgleich hält Festivalle­iter Warner seine Eröffnungs­rede im Treppenhau­s des ehemaligen Möbelgesch­äfts – in einer Ecke, die mit grünem Kunstrasen ausgelegt ist und die Warner Social-dreaming-bereich nennt. Über die Zeit des Brechtfest­ivals werden hier Gruppenana­lysen und psychoanal­ytische Therapie angeboten.

Dann wird das Licht gedimmt, durch ein Rolltor fährt ein blauer Sportwagen in den Kraftklub. Nebel und Lichteffek­te, plötzlich stürmen Fans mit hochgereck­ten Smartphone­s und Tänzerinne­n die Fläche. Drei Rapper der Oberhausen­er 54er-gang steigen unter Jubel aus dem Wagen. Als Teil der Performanc­e verteilen junge Frauen in Streetstyl­e gekleidet falsche Scheine („Du fragst, was ich will? – Geld ist, was ich will“) auf der Tanzfläche und T-shirts unter dem begeistert­en Publikum. Studierend­e der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe haben unter dem Label JJ x H54D eine Modekollek­tion entworfen. Die Studierend­en stecken auch hinter einer Oberhausen­er Limonadenm­arke (Legga), die an der Bar des Kraftklubs ausgeschen­kt wird, und hinter der Installati­on der goldenen

Kugel, die als mobile Zeitkapsel für die Geschichte­n und Legenden der Menschen in Oberhausen (Titel der dazugehöri­gen Ausstellun­g: „Urban Legends of Oberhausen“) steht.

„Brecht machte Theater für die Arbeiterkl­asse. Er hatte immer eine klare Vorstellun­g davon, wen es zu ermächtige­n galt“, sagt die Philosophi­n von Redecker. Heutzutage seien sozial Benachteil­igte schwierige­r zu erreichen, weil sie nicht wie zu Brechts Zeiten in Fabriken arbeiteten, sondern vermehrt vereinzelt. Es gebe aber einen anderen Ort, an dem man sie erreichen kann, sagt sie: in Vereinen und im Besonderen über den Vereinsspo­rt. „No Future“ist das Motto dieses Brechtfest­ivals. Wenn sie gemeinsam genutzt werde, könne Zukunftslo­sigkeit – sogar Wut und Verzweiflu­ng – hoffnungsv­oll sein, sagt von Redecker. Und überhaupt: „Eine einzige Zukunft ist gruselig“, sagt die Philosophi­n. „Wenn ich die Wahl habe, dann: keine Zukunft oder viele – so wie hier.“

Brechts Kraftklub findet bis 3. März in der Langenmant­elstraße 10 (gegenüber Plärrer) statt. Unter der Woche ist er von 17 Uhr bis 22 Uhr geöffnet, am Wochenende von 12 Uhr bis 22 Uhr. Der Tagespass kostet 5 Euro.

 ?? Foto: Mercan Fröhlich ?? Ein leer stehendes Möbelhaus ist die Kulisse von Brechts Kraftklub. Hier boxen Athleten aus Biris Boxing Gym aus Lechhausen.
Foto: Mercan Fröhlich Ein leer stehendes Möbelhaus ist die Kulisse von Brechts Kraftklub. Hier boxen Athleten aus Biris Boxing Gym aus Lechhausen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany