Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Ich mache mir schon Sorgen, aber Angst habe ich keine“
Hamas-terror und Antisemitismus treiben deutsche Juden um. Die junge Augsburgerin Isabell Aviva Vaisman erzählt, wie es sich lebt als liberale Jüdin in der Stadt – und wovon sie enttäuscht war.
Isabell Aviva Vaisman ist Vorsitzende des Csu-ortsvereins Hochzoll, 23 Jahre jung, Jüdin und hat in Augsburg Rechts- und Wirtschaftswissenschaften studiert. Was bedeutet es in diesen Monaten, jüdisch zu sein? Muss man da was tun, wachsam, vorsichtig sein? Auf eine Anfrage der Redaktion erklärt sich Vaisman bereit, Antworten und Einblicke in ihr Leben zu geben. Eine erfolgreiche Einwanderungsgeschichte und eine junge Augsburger Biografie, in die sich die Schlachtfelder der Ukraine als auch die Ausläufer des Nahostkonflikts eingenistet haben.
Wann und wo sie sich öffentlich als Jüdin vorstellt, das überlegt Vaisman sehr genau. Denn seit 2014, als sie begann, sich für diesen Teil ihrer Identität zu interessieren, ist es nie selbstverständlich gewesen, Jüdin zu sein. 2014 war der letzte große Gaza-krieg. Die Hamas hatte drei israelische Jugendliche ermordet, Israel startete umfangreiche Festnahmen und Luftangriffe auf Hamas-stellungen. Auch dieser Krieg war begleitet von großen, aufgeheizten Demonstrationen in Deutschland. Im Zuge dessen meldeten türkeistämmige Muslime des rechten Spektrums in Augsburg eine Demonstration an, auf dem Rathausplatz skandierten Hunderte Menschen „Kindermörder Israel“.
Seither, so Vaisman, sei vor allem in den sozialen Medien eine kontinuierliche, antisemitische Grundstimmung spürbar gewesen, auch wenn sie selbst weder an der Schule noch bis letzten Herbst an der Universität beleidigt oder
angegriffen worden sei. Doch seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober sei da Lebensgefühl ein anderes. Israelfeindlichkeit in deutschen Straßen, Rufe nach dem Kalifat auf einer Demonstration in Essen – inzwischen geht Vaisman wieder vorsichtiger mit dem Zeigen ihres Davidsterns um. Auch der politische Umgang mit der abgerissenen Israel-fahne auf dem Rathausplatz habe ihr Sicherheitsgefühl erschüttert, sagt sie. Im entscheidenden Moment habe die Stadt aus ihrer Sicht versagt. Nachdem die Fahne zweimal abgerissen worden war, blieb sie unten. Gegenüber der Oberbürgermeisterin
habe sie sich daraufhin klar geäußert. Man setze doch auch in der deutschen Politik sehr viel auf Symbolik, warum nicht hier?
Für die Familie ist der Nahe Osten sehr nah. Vaisman weiß, dass man in Israel beim Kauf einer Wohnung immer ein Zimmer als Bunker mit eisenverstärkten Türen und Wänden ausbaut. Als am 7. Oktober die ersten Nachrichten und Bilder vom Hamas-massaker öffentlich wurden, hatten ihre Eltern in Hochzoll Freunde aus Israel zu Besuch. „Es war furchtbar, wir saßen alle wie erstarrt vor dem Fernseher.“Der Rückflug am 8. Oktober fiel aus Sicherheitsgründen aus. Erst am nächsten Tag wurde der Alarm aufgehoben. Doch der Sonderbereich am Münchener Flughafen, von dem aus die Flieger nach Israel starten, sei noch stärker gesichert gewesen als sonst, erzählt Vaisman.
Die antiisraelischen Demonstrationen der letzten Wochen, antisemitische Sprüche auf der Berlinale, in der Uni Bayreuth, auf einer Konferenz in München, auch Angriffe auf Juden in Berlin und Zürich hinterlassen Unsicherheit. „Ich mache mir schon Sorgen, aber Angst habe ich keine“, sagt Vaisman. Mit ihrer Davidsternkette allerdings ist sie im Alltag, vor allem in Augsburger Bussen und Straßenbahnen, vorsichtig.
Vaisman ist mit Deutsch und Russisch zweisprachig aufgewachsen. Ihre Eltern stammen beide aus russischsprachigen Teil der Ukraine, haben also beide auch eine besondere Beziehung zum aktuellen Ukraine-krieg. Viele Welten laufen in dieser Familie zusammen. Zwar spielte das Jüdischsein eine eher kulturelle als religiöse Rolle. Ihre Mutter zünde zu Hanukkah eine Kerze an und in der russischen Samstagsschule las Vaisman die Kinder-thora. In den letzten neun Jahren jedoch wurde das Judentum zum Teil ihres Lebens. Sie eignete sich Wissen in Eigenregie an, bis sie vor wenigen Monaten in der Augsburger Synagoge erstmals an einem Schabbat-gebet teilnahm.
Während sie deutsch-säkular und liberal sozialisiert sei, gehe es in der Gemeinde ziemlich orthodox zu. Amtssprache sei Russisch. „Wäre es nicht meine Muttersprache, würde ich nichts verstehen.“Dass sie an einem Freitagabend nach Beginn des Schabbats dem Rabbiner ihre Handynummer nicht selbst aufschreiben durfte, sondern für das Stiftaufnehmen und Schreiben jemand gerufen wurde, habe sie sehr erstaunt. Auch dass Frauen und Männer mitten in Deutschland durch unterschiedliche Eingänge zum Gebet gehen müssen, und ausschließlich Männer in der Thora unterrichtet werden, findet sie befremdend. Doch sie werde sehr herzlich aufgenommen und fühle sich wohl in der Gemeinde. „Die Leute sind sehr hilfsbereit. Und ich will ja etwas lernen, deswegen sind mir die Gottesdienstbesuche weiterhin wertvoll.“