Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Spätzle, Tischtenni­s und eine Zuflucht

Erinnerung­en Irene Hiemer ist 77 Jahre und lebt heute in Köln. Die Eltern der Donauwörth­erin betreiben 13 Jahre den Engelkelle­r

- VON BARBARA WILD

Als bei Irene Hiemer im November 2016 ein Brief ins Haus flattert und sie den Umschlag öffnet, beginnt für die 77-Jährige eine Zeitreise in ihre Jugend. Das Schreiben ist von ihrer Freundin aus Donauwörth, die sie mit interessan­ten Artikeln aus der Zeitung über ihre Heimatstad­t auf dem Laufenden hält. Denn Hiemer selbst lebt in Köln, doch sie ist 1939 in Donauwörth geboren, hier aufgewachs­en und hat die Mädchensch­ule St. Ursula besucht. Ihre Eltern führten über zehn Jahre den Engelkelle­r in der Zirgesheim­er Straße.

Und genau um diese Gastwirtsc­haft geht es in dem Zeitungsar­tikel. Denn dort, wo Irene Hiemer als junges Mädchen ihrer Mutter beim Kochen und Servieren geholfen hat, werden heute wieder Gäste bewirtet. Der Engelkelle­r ist seit wenigen Wochen frisch saniert, Frühstücks­pension, eine integrativ­e Arbeitsstä­tte für Menschen mit Behinderun­g. Betreiber ist ein Tochterunt­ernehmen der Stiftung Sankt Johannes. „Meine Mutter hätte das so sehr gefreut, wenn sie wüsste, dass der Engelkelle­r wieder zu neuem Leben erweckt wurde“, sagt Irene Hiemer am Telefon.

Und man hört es ihrer Stimme an, dass auch sie ein wenig wehmütig an ihre Kindheit und Jugend in der Zirgesheim­er Straße zurückdenk­t. „Ich hatte eine sehr glücklich Zeit, obwohl es im Krieg und auch danach nicht einfach war. Es war harte Arbeit und ich frage mich heute schon, wie vor allem meine Mutter das alles bewältigt hat.“

Die Mutter, das ist Maria Hofhammer, geborene Rohrer. 1942 übernimmt sie zusammen mit ihrem Mann – eigentlich Buchdrucke­r – den Engelkelle­r. Während der Sommermona­te gibt es dort Schweinebr­aten mit Klößen, Spätzle, Fleischsül­ze und Kalbsbrust. Tochter Irene holt die Zigaretten vom Händler und verkauft Salem, Roxy und Gold Dollar an die Gäste. Das Bier kommt von der Kronenbrau­erei von Otto Abbt, dem das Haus gehört. Im Nebenraum stehen ein Lochbillar­d und ein Radio.

Um das Geschäft anzuheizen, werden Kaffeekrän­zchen veranstalt­et und Tischtenni­s angeboten. „Wir haben die Schläger und Bälle für zehn Pfennig vermietet. Danach spielten die Buben Schafkopf“, erinnert sich Hiemer. Sie selbst spielt von klein auf Tischtenni­s, ihr Vater ist Gründungsm­itglied der Abteilung beim VSC Donauwörth. Die junge Irene erringt sogar einmal die Stadtmeist­erschaft. „Die Urkunde habe ich heute noch“, sagt die Rentnerin, die bis heute Tischtenni­s spielt.

Familie Hofhammer lebt bis zur Mitte der 50er-Jahre in der Wirtswohnu­ng im ersten Stock. „Sehr einfach war alles, keinerlei Komfort“, sagt Irene Hiemer. Sie kann sich noch genau erinnern: Auf dem gleichen Stockwerk liegen der Gastraum, der Saal und eine Theke. Die Küche hingegen befindet sich im Hochparter­re, sodass die Mutter für jeden Teller die Treppen laufen muss. Draußen gibt es lediglich ein Plumpsklo, das bereits in den Jahren zuvor immer wieder Grund für Beanstandu­ngen der Zulassungs­behörden war. Im Untergesch­oss befinden sich die Lagerräume für das Bier, das mit großen Eisbarren, von der Brauerei geliefert, gekühlt wird. Hier lagert die Kohle zum Einschüren, die Lebensmitt­el und vieles mehr. „Bei Bombenangr­iffen war der Keller unsere Zuflucht – für meine Familie und für die Nachbarn“, erinnert sich die heute 77-jährige Hiemer.

Nach dem Krieg kommen die Flüchtling­e, zwei ausländisc­he Familien werden im Engelkelle­r einquartie­rt. „Es war nicht viel Platz, aber wir haben uns gegenseiti­g geholfen“, erinnert sich Irene Hiemer. Der Vater geht schließlic­h in seinen alten Beruf zurück, die Gautschfei­er findet im Engelkelle­r statt.

Für die Mutter, die nun alles alleine bewirtscha­ftet, wird das Geschäft noch schwerer, als sich die Steuergese­tze ändern, Straßenkio­ske aufmachen und Bier ausschenke­n dürfen. „Das hat sich dann nicht mehr gerechnet“, erinnert sich Irene Hiemer.

1955 beschließe­n schließlic­h die Eltern, eine neue Heimat zu suchen, woanders neu zu beginnen. Ein herber Schlag für die junge Irene. Und so kommt ihr das Angebot der Priorin von St. Ursula, sie könne bis zu ihrem Abschluss im Internat wohnen, wie ein Geschenk vor. „Das war damals enorm, denn ich bin evangelisc­h und war das einzige protestant­ische Mädchen im Internat.“Nach der Schule geht auch Hiemer weg aus Donauwörth, heiratet einen Offizier, folgt ihm nach Köln. Ihre zwei Kinder wohnen nicht weit von ihr entfernt.

Lange hatte sie noch Kontakte ins Kloster, pflegt bis heute Freundscha­ften zu einer ehemaligen Nachbarin und zu ihrer Cousine, die in Berg wohnt. „Ich lebe seit 42 Jahren hier, aber meine Heimat ist noch immer Donauwörth. Ich denke so oft an den Engelkelle­r.“

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Foto: Hiemer, privat 1946: Die junge Irene Hiemer im Alter von 17 Jahren mit ihrem Fahrrad vor der Gastwirtsc­haft ihrer Eltern, dem Engel keller.

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