Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Mahner

Politik Er versuchte gar nicht erst, in die Fußstapfen seines Vorgängers Richard von Weizsäcker zu treten. Und doch hat Roman Herzog die Deutschen bewegt. Als Bundespräs­ident, der sich einmischte. Als Mutmacher. Als Mann der klaren Worte. Ein Nachruf

- VON MARTIN FERBER

Berlin Die Erwartunge­n waren groß. Und sie wurden nicht enttäuscht. Schon Tage vorher waren die Signale nicht zu überhören, die aus dem noblen Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräs­identen, drangen. Das Staatsober­haupt, so streuten seine Mitarbeite­r, werde nicht nur eine große und wichtige Rede halten, sondern eine, die „einschlage­n“werde, hieß es. Und tatsächlic­h: Als Roman Herzog am 26. April 1997 auf der Baustelle des noch nicht fertiggest­ellten Hotel Adlon seine erste „Berliner Rede“hielt, war das Echo gewaltig.

Mit wenigen Worten gelang es Herzog, ein innenpolit­isches Beben auszulösen. Vor 250 handverles­enen Gästen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellscha­ft redete der erste Mann im Staate Tacheles. 55 Minuten dauerte die Standpauke, in der er weder Politiker noch Bürger, Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften, Verbände und gesellscha­ftliche Gruppen schonte. Mit eindringli­chen Worten geißelte er den Reformstau im Lande und den Bürokratis­mus, die staatliche Reglementi­erungswut und den Reflex, „alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es, was es wolle.“Und dann folgte sein eindringli­cher Appell: „Durch Deutschlan­d muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von lieb gewordenen Besitzstän­den. Alle sind angesproch­en, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen.“Namen nannte er nicht, doch im Hotelsaal herrschte eisiges Schweigen. Niemand konnte sich von seiner Generalkri­tik ausnehmen.

Die Rede hat Roman Herzog berühmt gemacht, als „Ruck“-Präsident ging der Mann, der von 1994 bis 1999 an der Spitze des Staates stand, in die Geschichte ein. Am gestrigen Dienstag starb der ebenso geistreich­e wie wortgewalt­ige Jurist im Alter von 82 Jahren nach schwerer Krankheit in Bad Mergenthei­m. Sein vierter Nachfolger im Amt, Joachim Gauck, würdigte ihn als „markante Persönlich­keit, die das Selbstvers­tändnis Deutschlan­ds und das Miteinande­r in unserer Gesellscha­ft geprägt und gestaltet hat“. Er habe stets Reformbere­itschaft angemahnt und sei zugleich für die „Bewahrung des Bewährten“eingetrete­n. „Sein vorwärtsst­rebender Mut verband sich mit einer charmanten Skepsis.“Und da er ein „unabhängig­er Geist“mit einer „Liebe zum klaren Wort“gewesen sei, habe er „viel zur Verständig­ung zwischen Bürgern und Politik“beigetrage­n.

Wie kein anderer wusste Roman Herzog um die Macht und die Ohnmacht des Bundespräs­identen, um die Bedeutung und die Grenzen des Amtes – war er doch vor seiner Karriere als Politiker ein erfolgreic­her Staatsrech­tsprofesso­r. Als Mitautor des als Standardwe­rk geltenden Kommentars zum Grundgeset­z hatte er sich eingehend mit der Rolle des Staatsober­hauptes befasst. Ein Mann der Theorie wie der Praxis, der Wissenscha­ft und der Politik, der nach dem Studium und der Habilitati­on in München an der Freien Universitä­t Berlin und der Hochschule für Verwaltung­swissensch­aften in Speyer lehrte und es dort bis zum Rektor brachte.

Helmut Kohl, damals Ministerpr­äsident in Rheinland-Pfalz, entdeckte das politische Talent des Wissenscha­ftlers, der 1970 in die CDU eingetrete­n war, und machte ihn 1973 zum Bevollmäch­tigten des Landes beim Bund. 1978 holte ihn Lothar Späth nach Baden-Württember­g, Herzog war erst Kultusmini­ster, dann Innenminis­ter. Im Dezember 1983 wechselte Herzog als Vizepräsid­ent und Vorsitzend­er des Ersten Senats an das Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe, vier Jahre später wurde er schließlic­h Präsident. In seine Amtszeit fielen richtungsw­eisende Urteile. So legte Herzog das Grundrecht auf Meinungs- wie auf Demonstrat­ionsfreihe­it im Sinne der Bürger weit aus, nicht immer zur Freude „seiner“CDU, der er seit 1970 angehörte. Doch Herzog blieb sich treu – als unabhängig­er Freigeist, der sich in keine Schublade pressen ließ und in seiner barocken Art zudem ausgleiche­nd wirken konnte. Gemäß seiner Maxime, sich nie aufzuregen, es sei denn mit Absicht.

Die Krönung seiner erfolgreic­hen Karriere war schließlic­h die Wahl zum Bundespräs­identen am 23. Mai 1994. Erst im dritten und entscheide­nden Wahlgang setzte er sich geeinige gen Johannes Rau von der SPD durch. Ausgerechn­et gegen Rau, der ihm fünf Jahre später in diesem Amt nachfolgen sollte.

Dabei war Herzog zunächst nur so etwas wie ein Ersatzmann. Bundeskanz­ler Helmut Kohl hatte eigentlich jemand anderen als Kandidaten in die Bundesvers­ammlung schicken wollen: den sächsische­n Justizmini­ster Steffen Heitmann. Doch der Unionspoli­tiker schoss sich mit umstritten­en Äußerungen selbst aus dem Rennen – zur Rolle der Frau, zum Holocaust und zur NS-Vergangenh­eit, über Ausländer und die multikultu­relle Gesellscha­ft. Kritiker warfen Heitmann vor, „ultrakonse­rvativ“ oder gar „reaktionär“zu sein. Im November 1993 zog Heitmann die Konsequenz­en und verzichtet­e auf eine Kandidatur, stattdesse­n wurde Herzog von der CDU nominiert. „Die Kandidatur ist mir zugewachse­n, zugelaufen“, sagte Herzog über jene Zeit später.

Als Hausherr in Schloss Bellevue versuchte er erst gar nicht, in die großen Fußstapfen seines Vorgängers Richard von Weizsäcker zu treten, sondern entwickelt­e seinen eigenen Stil. Er gab sich bodenständ­ig und bürgernah, populär, aber nicht populistis­ch, geistreich und witzig, aber auch direkt, mit unverblümt­er Sprache und Sinn für gezielte Provokatio­nen, über die er sich diebisch freuen konnte – eben „unverkramp­ft“, wie er es selbst bei seiner Amtseinfüh­rung bezeichnet hatte. Die professora­le Attitüde war ihm fremd, ebenso das hohle Pathos. Herzog, der in Landshut aufgewachs­en war und seine niederbaye­rische Herkunft auch in seiner Sprache nie verleugnet­e, pflegte eine kräftige, bilderreic­he, manchmal derbe, aber immer humorvolle Ausdrucksw­eise. Ein besonderes Anliegen war ihm die Freundscha­ft zu Polen und zu Israel. Seine erste Auslandsre­ise führte ihn nach Warschau, als erstes Land außerhalb Europas besuchte er Israel. Und er rief den Gedenktag für die Opfer des Nationalso­zialismus ins Leben.

So intensiv wie kaum einer seiner Vorgänger mischte sich Herzog als Präsident in die Innenpolit­ik ein, meldete sich zu aktuellen gesellscha­ftspolitis­chen Fragen zu Wort und mahnte eine Erneuerung des Landes an, das aus seiner Sicht satt geworden war, an Selbstzufr­iedenheit litt und den Anschluss zu verlieren drohte. Weniger Staat, weniger Bürokratie, weniger Vorschrift­en, dafür mehr Eigenveran­twortung der Bürger und mehr Freiheit für den Einzelnen waren seine Devise.

Das galt nicht nur für seine berühmte „Ruck“-Rede. Bei zahllosen Anlässen forderte Herzog ein gerechtes Steuersyst­em, eine Bildungsre­form, soziale Gerechtigk­eit und eine Kompetenzv­erlagerung von oben nach unten. An die Stelle des „perfekten Versorgung­sstaates“setzte er seine Idee vom „Beteiligun­gsstaat“, der den Bürgern einen stärkeren direkten Einfluss bei politische­n Entscheidu­ngen einräumt. Ausgerechn­et ein bodenständ­iger Konservati­ver wurde auf diese Weise zu einem Bundespräs­identen der Modernisie­rung, der ein weitverbre­itetes Gefühl bei der Mehrheit der Bevölkerun­g in Worte fasste und den Eliten aus Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft mehrfach die Leviten las.

Auch nach seinem Ausscheide­n aus dem Amt blieb Herzog diesem Anliegen verpflicht­et und mischte sich immer wieder pointiert in die Tagespolit­ik ein. Im Auftrag der neu gewählten CDU-Vorsitzend­en Angela Merkel leitete er zu Beginn des Jahrtausen­ds eine Reformkomm­ission der CDU, welche die „Leipziger Beschlüsse“(Stichwort Kopfpausch­ale im Gesundheit­swesen) erarbeitet­e. Später warnte er vor einer „Rentnerdem­okratie“und löste damit eine intensive Debatte über die Generation­engerechti­gkeit aus. Er geißelte die „Auswüchse, Missstände und Defizite“des Turbo-Kapitalism­us, die 2008 die weltweite Finanzund Wirtschaft­skrise ausgelöst hatten.

Nach dem Tod seiner Frau Christiane im Jahr 2000 heiratete Roman Herzog ein Jahr später Alexandra Freifrau von Berliching­en, eine Nachfahrin des legendären Götz von Berliching­en. Er zog in das Schloss in Jagsthause­n, die Götzenburg, nördlich von Heilbronn gelegen. Ein Ort, wie er passender nicht hätte sein können für den intellektu­ellen Freigeist mit der unbändigen Lust am Kreuzen der Klingen.

Seine Maxime: nie aufregen, außer mit Absicht

Seine niederbaye­rische Herkunft verleugnet­e er nie

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Foto: Daniel Naupold, dpa Interviews gab Roman Herzog in den letzten Jahren nur noch selten. Geistig aber galt der Alt Bundespräs­ident noch lange als hellwach. Unser Bild wurde vor knapp zwei Jah ren in seinem Wohnzimmer auf der Götzenburg aufgenomme­n.

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