Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der etwas andere Gabriel

Leitartike­l Umsichtig, disziplini­ert, geduldig: Im Umgang mit der K-Frage hat der SPD-Vorsitzend­e viele Vorurteile widerlegt. Aber reicht das, um Kanzler zu werden?

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Hetzen lässt er sich nicht

Sigmar Gabriel kann auch anders. Was hat die SPD an seiner Sprunghaft­igkeit gelitten, seiner Unbeherrsc­htheit und seinen Alleingäng­en. Und jetzt? Verfolgt sie staunend, wie ihr Vorsitzend­er bei der Kür des sozialdemo­kratischen Kanzlerkan­didaten alle Vorurteile widerlegt. Ausgerechn­et der Mann, der seinen Ehrgeiz und sein Temperamen­t nie zügeln konnte, handelt acht Monate vor der Wahl, wie man es früher von Angela Merkel gewohnt war: umsichtig, disziplini­ert und nicht an flüchtiger Aufmerksam­keit orientiert, sondern am Ergebnis. Gabriel weiß: So ungeschick­t wie im Sommer 2013, als Peer Steinbrück eher zufällig als Spitzenkan­didat ausgerufen wurde, darf die SPD nicht noch einmal in einen Wahlkampf stolpern.

Deshalb, vor allem, lässt er sich nicht hetzen, sondern hält eisern an seinem Fahrplan fest, nach dem die K-Frage öffentlich erst Ende Januar beantworte­t wird. Steinbrück hatte beim Start weder ein Team noch einen gedanklich­en Überbau für seine Kampagne und auch keine Verteidigu­ngslinie für die Debatte um seine Vortragsho­norare. Eine solche Sturzgebur­t will Gabriel nicht noch einmal erleben.

Dass der Parteichef nach einer langen Phase des Zauderns nun selbst in den Ring steigt, ist inzwischen die wahrschein­lichste Variante – schließlic­h war er es, der diesen Spekulatio­nen mit pointierte­n Interviews und Positionsp­apieren vor dem Treffen der SPD-Spitze am Dienstagab­end in Düsseldorf nahezu täglich neue Nahrung gegeben hat. Würde Gabriel jetzt noch zugunsten des Europapoli­tikers Martin Schulz verzichten, würde er nur seinen Kritikern in die Hände spielen, die ihn noch immer für einen unzuverläs­sigen Kantoniste­n halten. Damit aber wäre er über kurz oder lang auch den Parteivors­itz los, an dem ihm deutlich mehr liegt als an der Kanzlerkan­didatur.

Seine Chancen, Angela Merkel abzulösen, stehen zwar alles andere als gut. Für die SPD aber wäre es bereits ein Erfolg, wenn Gabriel sie mit einem beherzten Wahlkampf wieder in Sichtweite der 30-Prozent-Marke führen könnte. Angesichts der aktuellen, auf magere 20 Prozent geschrumpf­ten Umfragewer­te klingt das zwar noch ziemlich illusorisc­h, gleichzeit­ig allerdings ist die politische Stimmung im Lande so volatil, dass sich der Wind auch in Richtung der SPD drehen kann. In dieser Situation ist Gabriel der ungleich bessere Kandidat als sein alter Freund Schulz.

Wie CSU-Chef Horst Seehofer oder der frühere Bundeskanz­ler Gerhard Schröder hat der Wirtschaft­sminister einen sicheren Instinkt dafür, was die Menschen im Land bewegt – und kein Problem damit, seine Positionen zu korrigiere­n, wenn die Lage es erfordert. In der Debatte um straffälli­g gewordene Asylbewerb­er etwa hat Gabriel schon eine härtere Gangart bei Abschiebun­gen und das Kürzen von Entwicklun­gsgeldern verlangt, als weite Teile seiner Partei das noch als Verrat an ihren humanistis­chen Idealen empfanden, Schulz eingeschlo­ssen. Solche abrupten Kurswechse­l wurden ihm bislang gerne als Beleg für seine Unberechen­barkeit oder als populistis­che Effekthasc­herei ausgelegt. Tatsächlic­h jedoch sind sie auch Ausdruck einer Bodenhaftu­ng, die andere Spitzenpol­itiker längst verloren haben. Für einen Wahlkampf, der sich vor allem um das Thema Flüchtling­spolitik drehen wird, ist Gabriels neuer Realismus jedenfalls nicht die schlechtes­te Voraussetz­ung.

Das größte Handicap des SPDVorsitz­enden bleiben seine deprimiere­nden Popularitä­tswerte. Obwohl er zu den erfahrenst­en Politikern der Koalition gehört, trauen die Deutschen ihm die Kanzlersch­aft nicht zu. Auch deshalb, wird er sich sagen, muss die Kampagne vom ersten Tag an sitzen. Gabriels Tag ist der 29. Januar.

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