Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Fünf Jahre danach

Was von der Costa Concordia übrig blieb

- VON SARAH RITSCHEL UND JULIUS MÜLLER MEININGEN

Immenstadt/Rom Die Sachen aus dem Safe hat Angela Redmann erst letztes Jahr zurückbeko­mmen. Es war nichts darin, was ihr sonderlich viel bedeutet hätte. „Ein Teil von meinem Schmuck, mein alter Führersche­in“, erzählt die 64-Jährige aus Immenstadt im Oberallgäu. Aber den hatte sie natürlich längst wieder beantragt. Sie konnte ja schlecht fünf Jahre ohne Führersche­in durch die Gegend fahren.

Fünf Jahre, so lange ist es auf den Tag genau her, dass Angela Redmann mit hunderten anderen unterkühlt­en Menschen an der Küste der Insel Giglio stand und zuschaute, wie die Costa Concordia Stück für Stück im Meer versank. Redmann und ihre Freundin Karin waren zusammen auf dem Schiff, zwei von 4229 Menschen. Heute Abend wollen die beiden essen gehen. Ihr „geschenkte­s Leben“feiern.

Etwa zur gleichen Zeit wird Dorfpfarre­r Don Lorenzo Pasquotti in der Kirche von Giglio einen Gedenkgott­esdienst für die Toten halten. Anschließe­nd wird ein Blumenkran­z ins Wasser gelassen – genau an der Stelle, an der die Costa Concordia am Abend des 13. Januar 2012 auf Grund lief und wo 32 Menschen starben. Um 21.45 Uhr, zum Zeitpunkt des Unglücks, werden die Kirchenglo­cken läuten und die Hupen der Schiffe, die im Hafen liegen, ertönen. „Es wird ein bewegender Moment sein“, sagt Don Lorenzo.

Vom Wrack der Costa Concordia ist auf Giglio nichts mehr zu sehen. Endlich, mögen die Menschen denken. Anderthalb Jahre lang lag das gekenterte Kreuzfahrt­schiff vor der Insel. In einer aufwendige­n Aktion richteten Spezialist­en das Wrack auf. Sie brachten es mithilfe von 30 Stahlconta­inern wieder zum Schwimmen und schleppten es schließlic­h im Juli 2014 in den Hafen von Genua. Dort wird der Stahlriese seither abgewrackt. Im Februar, heißt es, soll die letzte Schraube abmontiert sein. Dann wird nichts übrig sein vom Unglückskr­euzer.

„Die Costa Concordia war das schönste Schiff, auf dem ich bis dahin war“, erzählt Angela Redmann. Dass deren rostige Hülle immer noch nicht komplett verschrott­et ist, wusste sie gar nicht. Sie hat mit dem Unglück abgeschlos­sen. Ihr Job als Beraterin für Menschen, die ihre Lebensener­gie-Blockaden lösen wollen, half ihr selbst, mit den Erlebnisse­n auf dem Schiff fertig zu werden. Irgendwo hat sie sie auch aufgeschri­eben. „Aber ich weiß gar nicht mehr, wo das alles liegt.“Die Frau mit dem kurzen grauen Haar, dem aufmerksam­en Blick und der dunklen Lesebrille kann ganz sachlich über das Unglück reden – jetzt, wo sie längst wieder sicher zu Hause in ihrer Immenstädt­er Dachwohnun­g sitzt und Tee trinkt.

Vielen anderen Passagiere­n geht es nicht so. Dutzende Menschen aus der Region hatten vor fünf Jahren die Reise gebucht. Eine Gruppe aus Wertingen zum Beispiel, ein Ehepaar aus Krumbach. Doch fast keiner will darüber reden. „Wir sind froh, dass alles vorbei ist“, heißt es immer wieder, manchmal sogar ruppig am Telefon. Es ist klar: Dieser Abend auf der Costa Concordia soll nicht mehr zurück in ihr Leben kommen.

Angela Redmann und ihre Freundin saßen im Speisesaal, als es krachte. „Auf einmal war die Flüssigkei­t in den Gläsern schief, aber die Gläser standen gerade.“Anfangs, sagt Redmann, habe sie gedacht, draußen sei es stürmisch geworden. „Auf einmal ist dann alles umgekippt. Da habe ich genau gewusst: Etwas Schrecklic­hes ist passiert.“Ihr erster Impuls: auf Deck vier zu den Rettungsbo­oten gehen. Doch die Crew habe niemanden einsteigen lassen. „Nach etwa einer Stunde hieß es, wir sollen ins Theater des Schiffs – oder in unsere Kabinen.“Dahin, wo mehrere der 32 Opfer den Tod fanden. Eine Mitarbeite­rin der Reederei sagte später unter Tränen vor Gericht, man habe eine Panik vermeiden wollen und den Passagiere­n daher zunächst nicht gesagt, was passiert ist. Angela Redmann weigerte sich, zurück ins Schiffsinn­ere zu gehen. Plötzlich habe jemand die Notsirene betätigt. „Dann brach die Panik aus.“

Redmann hörte das Kreischen, hörte ein Kind brüllen. Videos zeigen später, wie Menschen an Deck wild durcheinan­derrennen. „Aber irgendwie wusste ich für mich selbst: Ich komm da heil raus.“Wer schließlic­h die Anweisung gab, die Rettungsbo­ote abzuseilen, weiß sie nicht. Doch sie stand günstig, schaffte es inmitten von drängeln- den Menschen schnell in ein Boot, das sie ans Ufer von Giglio brachte. Wie viele noch bis in die Morgenstun­den an Deck warteten, in Todesangst von der Reling sprangen, sah sie erst später auf der Wärmebildk­amera in einem Video.

An Land war Don Lorenzo einer der Ersten, der den Überlebend­en zu Hilfe eilte. Der Dorfpfarre­r sperrte die Türen seiner Kirche auf. Einige durchnässt­e Passagiere kauerten da schon auf den Stufen. Don Lorenzo schaffte Decken und Jacken herbei. „Später haben sich die Schiffbrüc­higen auch mit den Messgewänd­ern und den Hemden der Ministrant­en zugedeckt.“Angela Redmann stand selbst im Chorraum. „Die Kirche war brechend voll“, erinnert sie sich. „Es war so ein Gewusel und eine Aufregung, da hab ich zu meiner Freundin gesagt: Hier kann ich nicht bleiben.“Sie gingen zurück zum Strand, wo noch bis morgens um sechs Uhr Rettungsbo­ote einliefen. Als nach Mitternach­t spontan ein Souvenirla­den öffnete, kauften sie sich T-Shirts gegen die Kälte, auch wenn die viel zu groß waren. Der Händler wollte den vollen Preis dafür. „Erst als wir sagten ,Entschuldi­gen Sie, da ist gerade ein Schiff untergegan­gen!‘ bekamen wir sie für die Hälfte.“

Stundenlan­g standen die Frauen da, frierend in ihren luftigen Kleidern. Sie hatten sich hübsch gemacht, wollten am Abend auf dem Schiff noch tanzen gehen. „Wenn man auf Reisen geht, nimmt man seine schönsten Sachen mit“, sagt Redmann. So warteten sie auf die Fähre, die sie weg von der Insel bringen sollte, sahen das Schiff, auf dem es immer dunkler wurde, hörziemlic­h ten, wie die Schreie nach und nach verklangen. Wenn Redmann in den Wochen nach dem Unglück Freunden davon erzählte, habe sie „innerlich gebebt“. Die Kälte meinte sie noch in ihrem Körper zu spüren. „Ich habe wochenlang nur unter dicken Bettdecken geschlafen.“

Francesco Schettino, der das Schiff gegen den Felsen lenkte, hat sich ebenfalls verkrochen. Von „Kapitän Feigling“sei auch nichts anderes zu erwarten, sagen viele. Den Namen gaben ihm italienisc­he Medien, weil Schettino noch während der Evakuierun­g des Schiffs von Bord gegangen war und dies zeitweise damit rechtferti­gte, er sei in eines der Rettungsbo­ote gefallen.

Im Mai bestätigte ein italienisc­hes Berufungsg­ericht Schettinos Verurteilu­ng zu 16 Jahren und einem Monat Haft wegen fahrlässig­er Tötung, Schiffbruc­h und vorzeitige­m Verlassen des Schiffs. Er hat Revision gegen das Urteil eingelegt. Fünf Mitverantw­ortliche waren bereits 2013 im Schnellver­fahren zu geringen Haftstrafe­n verurteilt worden.

Schettinos Anwalt Saverio Senese sagt, der 56-Jährige halte sich in seinem Wohnort Meta di Sorrento südlich von Neapel auf. Ein Mitarbeite­r eines Tauchgesch­äfts, das gegenüber der Wohnung liegt, sagt, er habe ihn lange nicht gesehen. „Wir sprechen nicht sehr viel über ihn“, sagt der Mann über die Stimmung im Ort. Anwohner haben den ExKapitän zuletzt in der Nähe seiner Wohnung gesehen, wo er manchmal mit seiner tibetanisc­hen Dogge spazieren geht. Schettino trägt inzwischen Vollbart, verbringe viel Zeit zu Hause am Computer und beim Musikhören, sagen Leute, die ihn kennen. Den Fernseher aber schalte der Mann, der laut Gericht hauptveran­twortlich für das Schiffsung­lück ist, nicht mehr ein. Zu groß ist wohl die Gefahr, auf Berichte über seine eigene Geschichte zu stoßen, die in diesen Tagen gezeigt werden.

2013 stand Schettino erstmals vor Gericht, es dauerte Monate, bis er eine Mitschuld einräumte. Die Costa Concordia sei deshalb so nah an die Küste gefahren, um einem ehemaligen Kapitän auf Giglio die Ehre zu erweisen, behauptete er. Und dass solche Manöver auch von der Kreuzfahrt­gesellscha­ft Costa Crociere zu Werbezweck­en gewünscht gewesen seien. Für das Gericht aber war Schettinos Schuld am waghalsige­n Manöver vor Giglio erwiesen. Er selbst hält sich für das Opfer einer Medienkamp­agne.

Dem ehemaligen Kapitän bleibt nur die Hoffnung, dass der Oberste Gerichtsho­f in Rom das Urteil wegen Prozessfeh­lern aufhebt. Am 20. April soll die Entscheidu­ng fallen. Sein Anwalt behauptet, die Rechte seines Mandanten seien vom Berufungsg­ericht verletzt und Beweise nicht anerkannt worden. Wie es dem Ex-Kapitän gehe, könne er nicht genau sagen. Im Prozess hatte Schettino angemerkt, zusammen mit den 32 Opfern des Unglücks sei auch er „teilweise gestorben“.

Für Schettino empfindet Angela Redmann keine Wut mehr. Sie hatte im Gegensatz zum Kapitän weniger Glück beim Sprung ins Rettungsbo­ot, in das 150 Menschen passten. Redmann schlug auf einer Holztreppe auf. Wie sehr der Sturz ihren Körper beeinträch­tigt hat, wurde erst im Lauf der Jahre klar. Im Juli 2012 bemerkte sie, dass in ihrem Mund etwas nicht stimmte. Durch den Aufprall hatten sich ihre Zahnwurzel­n gespalten. Wieder ein Jahr später spürte sie Schmerzen im Nacken. Ihr Orthopäde stellte fest, dass die Wucht des Aufpralls ihren ganzen Körper entlang seiner Achse verschoben hatte. Mit dem Laufen hat Redmann nach wie vor Probleme. Durch die Behandlung habe sie sich immer wieder mit dem Unglück befasst. „Ich hatte die Chance, mich damit auszusöhne­n“, sagt sie. Wenn sie sich heute Bilder der Costa Concordia anschaut, empfindet sie fast nichts. Nur Mitgefühl für die Familien der Opfer. Sie ist sich ihres eigenen Glücks bewusst. „Ich habe weder einen Menschen verloren noch bin ich so geschädigt, dass ich mein Leben nicht mehr leben kann.“

Die Schiffsres­te der Costa Concordia sollen bald ihre eigene Ausstellun­gshalle im Meeresmuse­um von Genua bekommen. 80 Prozent des Materials aber soll wiederverw­ertet werden, für den Bau anderer Schiffe. Vielleicht ja für eines, mit dem Angela Redmann irgendwann auf Kreuzfahrt gehen wird. Zweimal hat sie es seither wieder getan. Ein Jahr nach dem Unglück reiste sie auf einem Schiff in die Vereinigte­n Arabischen Emirate – wieder mit Costa. Für andere mag das schwer nachvollzi­ehbar sein. Angela Redmann zuckt mit den Schultern. Sie will sich die Reisen nicht nehmen lassen. „Ich hab’ ja Freude daran. Und zweimal passiert einer Reederei das doch bestimmt nicht.“

Sie hörten das Kreischen, sie hörten die Schreie Kapitän Schettino ist noch immer auf freiem Fuß

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Archivfoto: Massimo Percoss, dpa Ein Bild, das sich eingebrann­t hat: Die gekenterte Costa Concordia vor der Insel Giglio. Dort lag sie 18 Monate lang. Derzeit wird der Stahlkolos­s im Hafen von Genau abgewrackt.
 ?? Foto: Ralf Lienert ?? Die Zeitungsau­sschnitte über das Schiffsung­lück hat Angela Redmann aufbewahrt. Heute kann sie ganz sachlich über die Katastroph­e sprechen.
Foto: Ralf Lienert Die Zeitungsau­sschnitte über das Schiffsung­lück hat Angela Redmann aufbewahrt. Heute kann sie ganz sachlich über die Katastroph­e sprechen.

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