Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mit aller Macht

Analyse Der türkische Präsident Erdogan geht massiv gegen kritische Medien vor. Erst am Mittwoch gab es wieder Prozesse gegen prominente Journalist­en. Für die Bürger wird es immer schwierige­r, sich aus unabhängig­en Quellen zu informiere­n

- VON SUSANNE GÜSTEN UND DANIEL WIRSCHING

Eigentlich hätten die Türken bei der Neujahrsan­sprache ihres Ministerpr­äsidenten vom Sofa fallen müssen. Die Türkei werde auch im neuen Jahr „die friedensti­ftende Rolle in der Region und der Welt spielen, für die sie bekannt ist“, versprach Binali Yildirim seinen Landsleute­n. Sie werde „ihre stabile Demokratie und ihren Rechtsstaa­t bewahren“.

Dabei kann von Rechtsstaa­t keine Rede mehr sein, seitdem Präsident Recep Tayyip Erdogan im Juli 2016 nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch den Ausnahmezu­stand verhängte, Kritiker festnehmen und nach Angaben der Nichtregie­rungsorgan­isation „Reporter ohne Grenzen“(ROG) 177 Medien schließen ließ. Derzeit seien „weit über 100 Journalist­en in der Türkei“im Gefängnis. Seinem Ziel, der Einführung eines Präsidials­ystems, scheint Erdogan näher zu sein denn je. Das Parlament nahm am Montag die Debatte über die entspreche­nden Verfassung­sänderunge­n auf.

Christoph Dreyer von „Reporter ohne Grenzen“sagt: „Die Lage für die Pressefrei­heit in der Türkei ist extrem ernst.“Gerade angesichts einer möglichen weitreiche­nden Verfassung­sänderung sei das fatal. „Besonders jetzt bräuchten die Türken die Möglichkei­t, frei zu diskutiere­n.“Doch es werde immer schwierige­r für sie, sich in ihrem Land seriös zu informiere­n. „Es gibt noch ein paar wenige unabhängig­e Medien“, sagt Dreyer, „aber es werden immer weniger.“Unabhängig­e Medien müssten jederzeit mit Razzien rechnen und fürchten, geschlosse­n zu werden.

Der frühere Chefredakt­eur der regierungs­kritischen Tageszeitu­ng Cumhuriyet, Can Dündar, sieht die Türkei auf den Weg in die Diktatur. „Die freie Presse ist fast tot, Journalist­en, die für Pressefrei­heit kämpfen, sind in Lebensgefa­hr, die Polizei geht gegen Demonstran­ten auf der Straße vor; jeder Kritiker, der seine Stimme erhebt, muss damit rechnen, festgenomm­en zu werden“, sagte er erst vor wenigen Tagen Spiegel Online.

Dündar drohen in der Türkei fünf Jahre und zehn Monate Haft wegen eines Artikels über mutmaßlich­e geheime Waffenlief­erungen des türkischen Geheimdien­stes an Islamisten in Syrien. Erdogan hatte ihn angezeigt, der Vorwurf: Geheimnisv­errat. Dündar, der inzwischen in Deutschlan­d im Exil lebt, ist für ihn ein Staatsfein­d. In einem zweiten Prozess wegen Terrorvorw­ürfen könnte der Journalist zu einer Haftstrafe von bis zu zehn Jahren verurteilt werden. Der Prozess wurde am Mittwoch kurz nach Ver- handlungsb­eginn in Istanbul allerdings auf den 1. März vertagt. Dündars Frau war Anfang September der Pass abgenommen worden, sie darf die Türkei nicht verlassen.

Am Mittwoch wurde auch der Prozess gegen den Türkei-Korrespond­enten von „Reporter ohne Grenzen“, Erol Önderoglu, in Istanbul fortgesetz­t. Weil er an einer Solidaritä­tsaktion für die prokurdisc­he Zeitung Özgür Gündem (wir berichtete­n) teilnahm, wirft man ihm „Propaganda für eine terroristi­sche Organisati­on“vor. „Seit Jahrzehnte­n waren wir gewohnt, dass Journalist­en willkürlic­h inhaftiert und systematis­ch von der Justiz verfolgt werden“, zitierte ihn die Nachrichte­nagentur afp am Mittwoch. Heute aber würden die gesamte Zivilgesel­lschaft, Menschenre­chtler und kritische Journalist­en dieses Schicksal erleiden.

Das Präsidials­ystem, das Erdogan anstrebt, soll der terrorgepl­agten Türkei mehr Stabilität und Sicherheit bringen – dabei kann Erdogan schon seit dem vergangene­n Sommer per Dekret und ohne Parlament regieren. Die Gewaltwell­e konnte er nicht stoppen. Dündar hat die Hoffnung auf eine demokratis­che Türkei nicht aufgegeben, vor allem, weil die Hälfte der Menschen gegen die Pläne Erdogans und der Regierung sei, sagte er. Fundiert und unabhängig informiere­n, sich ein vernünftig­es Urteil über die Entwicklun­gen in ihrem Land bilden – das können sich türkische Bürger aber kaum noch.

Politiker wie Erdogan erfinden „alternativ­e Realitäten“– und diese verfestige­n sich allmählich zu Gewissheit­en. Dass etwa der Prediger Fethullah Gülen den Putschvers­uch eingefädel­t habe, gilt in der Türkei als ein derart klarer Fall, dass der parlamenta­rische Ermittlung­sausschuss nicht einmal die Hauptakteu­re anhören wollte – der Präsident hatte den Schuldigen ja bereits ausgemacht. Und dass die USA, Europa und/oder Israel sowohl hinter der als Terrorgrup­pe verbotenen Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) stecken als auch hinter Gülen und dem sogenannte­n Islamische­n Staat, wie das Regierungs­politiker häufig behaupten, wird öffentlich nur noch selten infrage gestellt.

Auch in anderen Ländern gaukeln Politiker Wählern gerne etwas vor. So behauptete der künftige USPräsiden­t Donald Trump vor Monaten, sein Vorgänger Barack Obama habe den Islamische­n Staat gegründet – lange bevor Erdogan in der vergangene­n Woche einen ähnlichen Vorwurf erhob. Der Unterschie­d ist, dass US-Bürger sich aus seriösen Quellen informiere­n können. In der Türkei dagegen sind viele Zeitungen und TV-Sender auf Erdogans Linie. Wenn nicht, sind sie verboten. „Das Fahndungsf­oto des Täters“, titelte eine Zeitung nach dem Terroransc­hlag auf einen Istanbuler Nachtklub in der Neujahrsna­cht – und brachte dazu ein Bild Obamas. Und wenn der Energiemin­ister und Erdogan-Schwiegers­ohn Berat Albayrak die ständigen Stromausfä­lle in Istanbul mit „Cyber-Angriffen aus den USA“rechtferti­gt, übernehmen das auch vormals ernst zu nehmende Zeitungen unkritisch.

Die verblieben­en unabhängig­en oder opposition­ellen Medien geben sich Mühe, zu berichten, was ist. Allerdings pflegt gerade auch die Opposition einen lockeren Umgang mit der Wahrheit. Der inhaftiert­e Journalist Ahmet Sik habe drei Tage lang kein Wasser bekommen, empörten sich Opposition­smedien am vergangene­n Wochenende. Doch Sik war nicht in Lebensgefa­hr – er hatte lediglich Leitungswa­sser trinken müssen, statt Wasser in Flaschen zu erhalten.

Die wohl schwerste Behinderun­g wahrheitsg­emäßer Berichters­tattung besteht aber in der immer schärferen Zensur des Internets, mit der die Türken langsam von der Außenwelt und unabhängig­en Informatio­nen abgeschnit­ten werden. Tausende Internetse­iten sind in der Türkei gesperrt, ebenso die Twitterkon­ten kritischer Journalist­en im Exil. Lange konnten diese Sperren leicht umgangen werden, inzwischen blockieren die Behörden auch die elektronis­chen Schlupflöc­her.

„Die Lage für die Pressefrei­heit in der Türkei ist extrem ernst.“ Christoph Dreyer, „Reporter ohne Grenzen“ „Jeder Kritiker muss damit rechnen, festgenomm­en zu werden.“ Can Dündar, Ex Cumhuriyet Chefredakt­eur

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Fotos: Sedat Suna, dpa/Arne Dedert, dpa/Ozan Kose, afp Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch im Sommer 2016 nach Angaben der Nichtregie­rungsorgan­isation „Reporter ohne Grenzen“177 Medien in seinem Land schließen. Derzeit seien „weit über 100 Journalist­en“im...
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Erdogan Kritiker Can Dündar lebt seit Monaten im Exil in Deutschlan­d.
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Erol Önderoglu von „Reporter ohne Grenzen“musste erneut vor Gericht.

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