Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Willkommen im „Ziferblat“

Gastronomi­e In dem Londoner Café ist Zeit tatsächlic­h Geld. Kaffee und Kuchen, Tee und Müsli sind kostenlos. Und dennoch geht die Rechnung für den Besitzer auf

- VON KATRIN PRIBYL

Wer das Café „Ziferblat“im Londoner Osten betritt, fühlt sich gleich wie im Wohnzimmer von Freunden. Bücher stehen keineswegs zur Dekoration in den Regalen, sondern wirken gelesen; ein Klavier lädt zum Spielen ein. Das „Ziferblat“ist ein Café. Allerdings ein ungewöhnli­ches.

Es gibt Kuchen und Kekse, Kaffee und Tee, Obst und Müsli – alles kostenlos. Nur für eines müssen die Gäste bezahlen: Für die Zeit, die sie hier verbringen. Zwei Stunden kosten fünf Pfund, das sind 5,75 Euro; drei Stunden – sechs Pfund. So lange man will – zwölf Pfund.

Dieses „Pay-per-hour“-Prinzip kommt an in Großbritan­nien. Neben dem „Ziferblat“in London existieren drei weitere Cafés auf der Insel, zwei in Liverpool sowie eines in Manchester. In der nordenglis­chen Stadt wird zudem demnächst zweite Zweigstell­e öffnen. Marketingm­anager Ben Davies sagt: „Wir versuchen weniger ein Café zu sein, sondern wollen vielmehr einen Gemeinscha­ftsraum anbieten.“

Vor einigen Jahren eröffnete der Russe Ivan Meetin ein derartiges Café in seiner Heimatstad­t Moskau – und setzte die Idee dann ab 2014 erfolgreic­h in Großbritan­nien sowie in anderen russischen und osteuropäi­schen Städten um. Das „Zifer- blat“als Ort des Verweilens statt des schnellen Konsums sei die Antwort auf veränderte Lebens- und Arbeitsgew­ohnheiten, sagt Davies.

An diesem Nachmittag sitzen zwei Freiberufl­er im Londoner „Ziferblat“– einer aus der Medienbran­che, die andere Designerin – vor ihren Laptops. Drei Mütter mit ihren Babys treffen sich zum Plausch. Ein Pärchen sitzt knutschend auf der Couch. Die auslieeine genden Flyer weisen auf hier veranstalt­ete Yoga-Kurse und Lesungen, Konzerte und Partys hin.

Der Prozentsat­z jener, die das Selbstbedi­enungskonz­ept ausnutzen und nur kurz einkehren, dafür aber überdurchs­chnittlich viel essen und trinken, „ist deutlich geringer als man erwarten würde“, sagt Davies. Das Konzept scheint aufzugehen. Warum also hat es das „Ziferblat“mit seinem innovative­n Bezahlsyst­em noch nicht in deutsche oder französisc­he Städte geschafft?

Laut Davies gebe es dafür keinen speziellen Grund. „Wir würden gerne überall in Europa sein, wie beispielsw­eise in Berlin, Amsterdam und Paris, zudem in den USA.“Doch: „Du willst gehen können, bevor du anfängst zu rennen.“

Er meint damit: Es wird noch ein bisschen dauern. Die Uhren ticken in diesem Café eben anders, auch wenn Zeit im „Ziferblat“tatsächlic­h Geld ist.

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Foto: Katrin Pribyl Die Gäste fühlen sich offensicht­lich wohl in dem Cafe im Londoner Stadtteil Shore ditch. Das „Ziferblat“ist heimelig wie ein Wohnzimmer.

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