Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der Mann mit der Macke
Diskuswerfen Christoph Harting legte bei Olympia in Rio einen exzentrischen Auftritt bei der Siegerehrung hin. Wie denkt er heute darüber? Ist er eigentlich immer so? Ein Besuch in Berlin
13.00 Uhr, Vino del Sol, der Lieblingsitaliener von Christoph Harting, der für ihn leicht zu Fuß erreichbar ist, der eine prima Küche hat und einen prima Lieferservice dazu – der viel beschäftigte Mensch kann ja nicht immer kochen. „Was halten Sie von einem angenehmen Mittagessen?“, hatte Harting geschrieben. Super Idee. Salat und Scaloppina Gorgonzola verputzt Harting, die Fritten lässt er liegen.
Der 26-Jährige hat inzwischen ja schon einige Male erklärt, wie es dazu kam. Zu diesen Szenen in Rio, als er nach dem Diskus-Gold bei der Olympia-Siegerehrung seltsam herumkasperte. Kleiner Filmriss, zu viele Endorphine im Spiel, verlorene Dämonen, nicht mehr Herr seiner Sinne ... „Ich war noch im Wettkampf, somit auf dem Siegerpodest nur körperlich anwesend“, sagt Harting jetzt. Er hat sich die Bilder angesehen und gesteht, „das war schon eine streitbare Angelegenheit mit negativer Tendenz“.
Die Heftigkeit der Kritik, die auf ihn einprasselte, hat er allerdings nie verstanden, er hält sie auch für unangemessen. „Es war vieles überzogen“, sagt Harting, stutzt und wählt dann moderate Worte. „Es ist normal, dass Ungewohntes auf Kritik stößt.“Immerhin seien seither etliche Kritiker zurückgerudert, einige hätten sich auch entschuldigt. „Das ist akzeptiert und okay so.“Schlussstrich. Es bleibt die Frage: Wer bestimmt eigentlich, wie sich ein Athlet zu freuen hat?
Leichter fällt es Christoph Harting, über den eigentlichen Wettkampf in Rio zu sprechen, in den er mit der Überzeugung gegangen ist, dass er gewinnen wird. Nach drei Würfen war er unzufrieden mit dem technischen Ablauf, weshalb er mit seinem Trainer Korrekturen abstimmte. Bewusst übte er die Veränderungen in den Würfen vier und fünf, weil er davon überzeugt war, „mir reicht dieser eine, der letzte Versuch“.
Selbstbewusstsein? Übersteigertes Selbstbewusstsein? Harting scheint die Gedankensprünge seines Gegenübers zu spüren und sagt: „Das ist von außen betrachtet natürlich eine Form von Arroganz.“
Er selbst sieht das aber anders. „Emotionen sind im Sport fehl am Platz, es geht um die nüchterne, pragmatische Art, das Notwendige zu tun. Es ist wie mit einem Zauberwürfel: Man muss erst das bereits Geschaffte verwerfen, um ihn komplett lösen zu können.“
Der sechste Wurf passte. Gold. Ist Gold gleich Geld dank neuer Sponsorenverträge? Der Mann schmunzelt, „alte Schule, der Gentleman genießt und schweigt“. Ein wahlloses Zugreifen kann man sich bei Harting nicht vorstellen: „Das Wichtigste ist Vertrauen! Ich habe viele Sponsoren, die meinen Weg mitgegangen sind, als ich noch nichts gewonnen hatte.“
Spitzensportler, Bundespolizist, Psychologiestudent, wie schafft man diesen Spagat? „Und Familienvater“, ergänzt Harting und zitiert den Philosophen Friedrich Nietzsche: „Wer an einem Tag nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave.“Für den Mann hat alles „A-Priorität, man muss einfach funktionieren“. Bei der Bundespolizei gehört er zu einer Sonderdienststelle für Spitzensportler, zwei bis drei Monate im Jahr muss er normal Dienst leisten, mit Früh-, Spät- und Nachtschichten. Acht bis neun Monate ist er für Training und Wettkämpfe freigestellt.
Im Polizeieinsatz ist er „gerne an belebten Orten wie dem Alexanderplatz oder der Friedrichstraße“. Aktuell befindet er sich in der Vorbereitung auf die neue Saison, der Tagesablauf ist bestimmt von Vorlesungen und Training. „Meine Freizeit beginnt ab 20.30 Uhr“, sagt Harting. Klarer Fall von Sklave? Nicht im Sinne Nietzsches, denn er macht ja alles freiwillig, wenn schon, dann ist der Mann ein Sklave seiner selbst.
Der Weltrekord im Diskuswurf liegt bei 74,08 Metern, aufgestellt von Jürgen Schult aus der ehemaligen DDR am 6. Juni 1986, in einer Hochzeit des Anabolikadopings. Diese Marke interessiert Harting allenfalls am Rande. Weltrekord? „Ja, ich werfe Weltrekord – definitiv“, sagt er ohne jegliche Emotion. Sein Ziel heißt: 80 Meter.
Das halten Wissenschaftler für ausgeschlossen – also eine Form von Größenwahn? 2014 hatte Christoph Harting diese Zahl erstmals genannt, „damals war ich größenwahnsinnig und hatte nichts gewonnen, jetzt habe ich zumindest den Olympiasieg“. Ein bisschen kokettiert der 2,07-Meter-Hüne mit diesen 80 Metern, aber lässt nicht von ihnen ab. „Man erreicht nur Ziele, die man sich selbst setzt“, erklärt Harting, „und für dieses Ziel motiviere ich mich täglich, ob es realistisch ist oder nicht, ist egal.“
Eine Macke? Aber gewiss doch. „Ich bin Leistungssportler, natürlich muss ich eine Macke haben“, sagt Harting und sieht sehr zufrieden aus, „wenn man jeden Tag, wirklich jeden Tag, auch an Weihnachten oder Silvester, besessen davon ist, der Beste sein zu wollen, muss man, in Anführungszeichen, verrückt sein.“
* Eine Anmerkung: Zweieinhalb Stunden Zeit hatte Christoph Harting mitgebracht und viel mehr interessante und kluge Sätze gesagt, als hier wiedergegeben werden konnten. Eine harte Nuss für Journalisten? Mitnichten. Ein engagierter Sportler und klarer Kopf? Aber sicher.