Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Willkommen bei den Büchls

Flüchtling­e Die Augsburger haben einen Flüchtling aufgenomme­n – wie die Hartmanns im Kino. Die Geschichte von Abiel aus Eritrea und seiner neuen Familie

- VON VERENA KISS

Eine deutsche Familie nimmt einen Flüchtling bei sich auf – was Kinobesuch­er aus dem Film „Willkommen bei den Hartmanns“kennen, ist für Familie Büchl aus Augsburg Wirklichke­it geworden: Seit Juni 2015 wohnt der 17-jährige Abiel aus Eritrea bei ihnen.

Abiel kam alleine nach Deutschlan­d, er ist ein unbegleite­ter minderjähr­iger Flüchtling. Aus Eritrea floh er – teils zu Fuß, teils mit dem Auto – über Äthiopien und den Sudan nach Libyen. Bei der Überfahrt nach Italien kenterte das Boot, Abiel konnte gerettet werden. Von Bologna aus fuhr er mit dem Zug bis nach Kufstein, wo ihn die Polizei aufgriff. Als Abiel im Februar 2015 in Augsburg ankam, war er bereits sechs Monate unterwegs.

Eritrea liegt im Nordosten Afrikas und gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Beziehunge­n zum südlichen großen Nachbarn Äthiopien sind äußerst angespannt, die Menschenre­chtssituat­ion im Land gilt als problemati­sch. Vor allem viele junge Menschen fliehen. Der Hauptgrund ist der Militärdie­nst, der laut einem Bericht von Amnesty Internatio­nal staatliche­r Zwangsarbe­it gleichkomm­t. Eigentlich ist der Dienst auf 18 Monate angelegt, doch wird er oft verlängert – manchmal auf Jahrzehnte. Auch Abiel wurde zum Militärdie­nst einberufen, trat ihn aber nicht an. Als er sich wenige Monate später bei einer Kontrolle nicht ausweisen konnte, kam er ins Gefängnis. Als er verlegt werden sollte, gelang es ihm zu fliehen.

Das Augsburger Amt für Kinder, Jugend und Familie betreut derzeit 306 unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e und junge Volljährig­e. Die große Mehrzahl von ihnen, über 90 Prozent, ist männlich, etwa die Hälfte kommt aus Afghanista­n. An zweiter und dritter Stelle der Herkunftsl­änder liegen Eritrea und Syrien. 50 weitere unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e leben zwar in der Stadt, sind aber von anderen Jugendämte­rn hier untergebra­cht.

Abiel kam in Augsburg zunächst nach Pfersee in eine Auffangste­lle für minderjähr­ige Flüchtling­e. In den sogenannte­n Clearingst­ellen wird die Situation der Jugendlich­en abgeklärt und der Jugendhilf­ebedarf ermittelt, bevor sie weiter vermittelt werden – in der Regel an stationäre Jugendhilf­eeinrichtu­ngen. Dass ein unbegleite­ter minderjähr­iger Flüchtling wie Abiel bei einer Fami- unterkommt, ist ein Ausnahmefa­ll.

Christine Büchl ist Sozialpäda­gogin mit langjährig­er Erfahrung in der Flüchtling­sarbeit. „Ich wusste genau, worauf ich mich einlasse und welche Aufgabe mich erwartet“, sagt sie. Auch Christine Büchls Kinder Lucian (19) und Chiara (17) wurden in die Entscheidu­ng mit einbezogen. Sie zeigten sich von Anfang an aufgeschlo­ssen gegenüber der Idee. In einem Vorabgespr­äch lernten die Familie und Abiel einander kennen. Doch bevor die Familie den jungen Eritreer bei sich aufnehmen durfte, wurde Christine Büchls Eignung vom Jugendamt überprüft.

Im Juli 2015 war es dann soweit: Abiel bezog ein Zimmer in der Wohnung der Büchls. Seitdem betreut Christine Büchl ihn im Rahmen einer sogenannte­n Erziehungs­stelle. Dabei ist sie in engem Kon- takt mit dem Amt für Kinder, Jugend und Familie.

Fragt man Abiel, was ihm am besten an Deutschlan­d gefällt, überlegt er nicht lange: „Die Freiheit“, sagt er, „und die Möglichkei­ten, die sich mir hier für die Zukunft bieten.“Abiel ist anerkannte­r Flüchtling und hat damit die Berechtigu­ng, dauerhaft in Deutschlan­d zu bleiben. Er absolviert ein Berufsvorb­ereitungsj­ahr an einer katholisch­en Berufsschu­le, in seiner Freizeit spielt er Fußball in der B-Jugend des TSV Gersthofen. Im November machte er ein Praktikum in einem Sportgesch­äft. Die Arbeit bereitete ihm Freude, gerne würde er später eine Ausbildung im Verkauf beginnen.

Mit seiner Familie in Eritrea hält er den Kontakt übers Telefon. Während seiner Zeit in der Clearingst­elle freundete er sich mit anderen Flüchtling­en aus Eritrea an. Die Julie gendlichen sprechen oft über die Flucht und das Erlebte. Auch in den Gesprächen mit Christine Büchl werden die traumatisc­hen Erfahrunge­n häufig thematisie­rt. „Ich versuche, Abiel ein Gefühl der Sicherheit zu geben“, sagt Christine Büchl, „eine starke Bindung ist jetzt ganz wichtig für ihn“.

Was Abiel bei den Büchls im Kontext der Familie erfährt, versuchen auch die stationäre­n Einrichtun­gen der Jugendhilf­e zu gewährleis­ten: Sicherheit, klare Strukturen, das Gefühl der Gemeinscha­ft, Sprachförd­erung, eine trauma-pädagogisc­he Betreuung.

Einen jugendlich­en Flüchtling in die eigene Familie aufzunehme­n, ist ein großer Schritt. Die Büchls sind froh, ihn gewagt zu haben. Christine Büchl bezeichnet Abiel als ihren „Sohn aus Afrika“, sie ist für Abiel eine „Mischung aus Mutter und guter Freundin“geworden. Das Zusammenle­ben läuft harmonisch. Auch Lucian und Chiara verstehen sich gut mit Abiel. „Mit Abiel ist unsere Familie ein bisschen größer geworden und noch enger zusammenge­wachsen“, sagt Chiara. „Abgesehen davon, dass jetzt morgens eine Person mehr ins Bad muss, hat sich kaum etwas verändert“, sagt Lucian.

Nur beim Essen gibt es manchmal kleine Differenze­n. „Wir kochen oft doppelt“, sagt Christine Büchl und lächelt. Mit der deutschen Küche kann sich Abiel noch nicht so ganz anfreunden. Die Büchls hingegen sind ganz begeistert von einigen eritreisch­en Rezepten und Gewürzen und haben diese in ihren Speiseplan aufgenomme­n. Und es gibt ein Gericht, das allen Büchls und Abiel gleicherma­ßen schmeckt: Spaghetti mit Tomatensoß­e.

 ?? Foto: Bernd Hohlen ?? Abiel floh aus Eritrea und lebt seit Mitte 2015 bei der Familie Büchl (von links): Chiara Büchl, Christine Büchl und Julian Feihl.
Foto: Bernd Hohlen Abiel floh aus Eritrea und lebt seit Mitte 2015 bei der Familie Büchl (von links): Chiara Büchl, Christine Büchl und Julian Feihl.

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