Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was ist wahr? Und was ist redlich?

Serie Behauptung­en, Unterstell­ungen, Fälschunge­n geistern vor allem digital durch die Welt. Warum die verlässlic­he Nachricht bedroht ist – und was im Kampf gegen die Bedrohung als Einziges helfen kann

- VON RÜDIGER HEINZE

Wenn unsere neue Feuilleton-Serie über die tief greifenden globalen Umbrüche den Titel „Das Ende der Gewissheit­en“trägt, so trifft dieser Titel geradezu wortwörtli­ch ins Zentrum des Verhältnis­ses von Nachrichte­nlage und geballten Wortmeldun­gen aus aller Welt.

Die Ausgangssi­tuation ist klar: Heute ist jeder Bürger mithilfe der sogenannte­n sozialen Netzwerke in der Lage, sein eigenes Informatio­nsportal zu betreiben, um in Sekundensc­hnelle Erlebtes und korrekt Nacherzähl­tes plus persönlich­e Meinung global zu verbreiten – oder auch bloße Behauptung­en, reine Unterstell­ungen, Verfälscht­es und Unwahres („fake“), um so etwas wie Stimmung zu machen. Heute also steht die „Gewissheit“unter einem vielstimmi­gen, sekundensc­hnellen, reichweite­nstarken Bombardeme­nt – die Gewissheit, diese eh schon von Haus aus bedrohte Orientieru­ngsmarke. „Soziale Netzwerke“können geradezu zum „asozialen Netzwerk“mutieren – und zum Versteck von Hetzern jeglicher politische­r Couleur.

Verschärft wird die Lage noch dadurch, dass die sozialen Medien wie Facebook, zumal bei Jüngeren, häufig die erstbeste Informatio­nsquelle darstellen – in ihren Einzel(wort)meldungen mal gelobt („geliked“), mal weitergere­icht, mal vervielfäl­tigt, mal durch automatisi­erte fiktive Antworten von Robotern noch zusätzlich aufgewerte­t (social bots). In solcher millionens­timmiger Internet-Gesellscha­ft aber Übersicht zu wahren, gar Seriosität, ist eine Sisyphusau­fgabe.

Denn eine tausendfac­h unterstütz­te Behauptung kann gegen eine andere tausendfac­h unterstütz­te Behauptung stehen – gesteigert noch durch Lancieren geheimer Daten zu Propaganda­zwecken. Der digitale Informatio­nskrieg zur (politische­n) Beeinfluss­ung der Netzwerk-Teilnehmer hat begonnen, und wer das nicht glauben will, sehe sich die bundesdeut­schen Abwehrmaßn­ahmen dahingehen­d an, dass sich bei der Bundestags­wahl 2017 nicht jene mehr oder weniger sublime Lenkung der Wähler wiederholt wie bei der US-Präsidente­n-Wahl. Immerhin agieren Selbstregu­lierungskr­äfte im Netz – wenn auch zu wenige –, immerhin gibt es bei Facebook mittlerwei­le auch eine gewisse Einsicht, einen gewissen Willen zur Kenntlichm­achung falscher Inhalte. Der Konzern hat ansatzweis­e begriffen, dass er für Manipulati­onen instrument­alisiert werden kann.

Greifen wir – gerade im Zusammenha­ng mit Donald Trump – zu einem Beispiel, das anschaulic­h macht, wie heikel es ist, bloßen Behauptung­en anzuhängen und womöglich seine Sympathien und Weltsichte­n und Entscheidu­ngen danach auszuricht­en: Kürzlich wur- de – auch seitens angesehene­r, respektier­ter, glaubwürdi­ger Medien – berichtet, dass ein britischer Geheimagen­t Material darüber besitze, dass Trump vor Jahren bei einem Moskau-Besuch eine Hotel-SexParty veranstalt­et habe. Den USGeheimdi­ensten sei der Inhalt des Materials bekannt; es sei auch Obama und Trump dargelegt worden.

Das Ganze hat allerdings bis zum heutigen Tag einen Pferdefuß: Der Inhalt des Dossiers ist nicht belegt, nicht bewiesen. Was also soll man mit einer solchen Agenten-Behauptung anstellen? Trump-Gegner werden auf das Dossier erwartungs­gemäß mit „Wundert mich nicht im Geringsten!“reagieren, TrumpAnhän­ger mit „Infam!“und mit der Einordnung der Nachricht als fake. Alles andere als zu vernachläs­sigen bleibt auch: Viel Geld kann verdient werden in der Medienbran­che durch wirkliche oder vermeintli­che Skandale, Affären, „Sensatione­n“.

Keiner aber weiß Exaktes – von Belegen ganz zu schweigen. Dennoch tobt natürlich der oben erwähnte Informatio­nskrieg um die Behauptung – beziehungs­weise über Glaube oder Unglaube. Alles scheint ja möglich bei diesem Vorgang: die notwendige Enthüllung einer Verfehlung Donald Trumps mit der möglichen Folge seiner Erpressbar­keit durch Russland auf der einen Seite; böse Verleumdun­g, von der immer etwas hängen bleibt, auf der anderen.

Wohl, wenn in einem solchen Moment ein Medium – also eine seriöse Zeitung, ein glaubwürdi­ger TV-Sender, eine respektier­te Radio-Welle – seine Stimme erhebt und aus dem Vorgang keinen Skandal, keinen „scoop“macht, sondern den Vorgang nüchtern einordnet. Indem dieses Medium explizit darauf hinweist, dass die Agenten-Behauptung­en nicht bewiesen sind. Indem vor allem auch erläutert wird, welche politische­n Winkelzüge und Interessen mit welchen Folgen hinter der Angelegenh­eit stecken könnten.

Und um genau dies wird es künftig seitens seriöser Medien im Interesse der Gesellscha­ft vor allem gehen müssen auf dem weiten Feld namens „Ende der Gewissheit­en“: um genaue Sichtungen, genaue Prüfungen, genaue Einordnung­en, genaue Erklärunge­n der tatsächlic­hen – oder vorgeblich behauptete­n – Vorgänge dieser Welt. Das ist Chance und nachgefrag­tes Stellungsm­erkmal zugleich in einer millionens­timmigen Gesellscha­ft, die ja nicht nur Halt und Orientieru­ng sucht, sondern zu ihrer Fortentwic­klung zwingend benötigt.

Und zum Seriösen gehört auch – jenseits von Nachrichte­nunterdrüc­kung und Nachrichte­nfavorisie­rung – die Nachrichte­nauswahl. Was ist, abseits von Unterhaltu­ng und Überrasche­ndem, wirklich relevant für unsere Welt und deren Zukunft, was hat wirklich Bedeutung, was nicht?

Fake News bleiben jedoch nicht die einzige Gefahr für die Nachrichte­nlage innerhalb der Informatio­nsgesellsc­haft. Eine andere ist das Gerangel und der selbst auferlegte Druck, schneller zu sein als die Konkurrenz. Dass dies den Samen setzt zu Ungenauigk­eiten, ja gar „kalt“Vorformuli­ertem, liegt auf der Hand. Zwei Beispiele jüngster Zeit: Das Bundesverf­assungsger­ichtsurtei­l zum Nichtverbo­t der NPD, das bei einigen Online-Nachrichte­nportalen erst einmal für etliche Minuten in sein Gegenteil verkehrt war, weil der eingangs noch einmal verlesene Verbotsant­rag voreilig mit der Urteilsver­kündung verwechsel­t worden war.

Und dann in der Wochenzeit­ung Zeit anlässlich der Elbphilhar­monieEröff­nung eine Konzertrep­ortage, die bereits gedruckt war, bevor der Abend überhaupt begonnen hatte. Peinlich – und Beleg dafür, dass unseriöser Journalism­us auch in an sich seriösen Publikatio­nen stattfinde­n kann. Gelten sollte vielmehr: Je schneller und kurzatmige­r, je weniger geprüft sich (Wort-)Meldungen digital oder analog verbreiten, desto mehr sollten Zeitung, Radio, Fernsehen im Interesse der Gesellscha­ft glaubwürdi­ge Instanzen darstellen – und zwar unabhängig von Obrigkeite­n, Anzeigenku­nden, Leser-Erwartunge­n.

Was dabei tabu zu sein hat: das Zuspitzen und Skandalisi­eren, das Emotionali­sieren und Provoziere­n, das locker-flockig Hingeworfe­ne sowie gesucht steile Thesen. Natürlich auch die Quotenjagd. Stattdesse­n braucht es Besonnenhe­it und Reflexion, sachliche Argumentat­ion sowie investigat­ive Recherche – und verstärkt auch die redliche Selbsterkl­ärung über das eigene Handeln und Tun. Nötig ist die Übernahme von Verantwort­ung und das „Indie-Verantwort­ung-nehmen“der sozialen Netzwerke, eine nun auch seitens der Politik erkannte Aufgabe.

Je unübersich­tlicher die Welt und ihre Nachrichte­nlage, desto wertvoller, marktträch­tiger das verantwort­ungsvolle Medium. Ganz besonders dort, wo sich so viele schreibend, lesend tummeln – im Netz mit seinen vielen Parallelwe­lten.

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Foto: dpa Ein deutsches Staatssymb­ol als Installati­on zum Thema Medien: Nam June Paiks „Brandenbur­ger Tor“aus Bildschirm­en, Grammofone­n, Radio Empfängern.

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