Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Was ist wahr? Und was ist redlich?
Serie Behauptungen, Unterstellungen, Fälschungen geistern vor allem digital durch die Welt. Warum die verlässliche Nachricht bedroht ist – und was im Kampf gegen die Bedrohung als Einziges helfen kann
Wenn unsere neue Feuilleton-Serie über die tief greifenden globalen Umbrüche den Titel „Das Ende der Gewissheiten“trägt, so trifft dieser Titel geradezu wortwörtlich ins Zentrum des Verhältnisses von Nachrichtenlage und geballten Wortmeldungen aus aller Welt.
Die Ausgangssituation ist klar: Heute ist jeder Bürger mithilfe der sogenannten sozialen Netzwerke in der Lage, sein eigenes Informationsportal zu betreiben, um in Sekundenschnelle Erlebtes und korrekt Nacherzähltes plus persönliche Meinung global zu verbreiten – oder auch bloße Behauptungen, reine Unterstellungen, Verfälschtes und Unwahres („fake“), um so etwas wie Stimmung zu machen. Heute also steht die „Gewissheit“unter einem vielstimmigen, sekundenschnellen, reichweitenstarken Bombardement – die Gewissheit, diese eh schon von Haus aus bedrohte Orientierungsmarke. „Soziale Netzwerke“können geradezu zum „asozialen Netzwerk“mutieren – und zum Versteck von Hetzern jeglicher politischer Couleur.
Verschärft wird die Lage noch dadurch, dass die sozialen Medien wie Facebook, zumal bei Jüngeren, häufig die erstbeste Informationsquelle darstellen – in ihren Einzel(wort)meldungen mal gelobt („geliked“), mal weitergereicht, mal vervielfältigt, mal durch automatisierte fiktive Antworten von Robotern noch zusätzlich aufgewertet (social bots). In solcher millionenstimmiger Internet-Gesellschaft aber Übersicht zu wahren, gar Seriosität, ist eine Sisyphusaufgabe.
Denn eine tausendfach unterstützte Behauptung kann gegen eine andere tausendfach unterstützte Behauptung stehen – gesteigert noch durch Lancieren geheimer Daten zu Propagandazwecken. Der digitale Informationskrieg zur (politischen) Beeinflussung der Netzwerk-Teilnehmer hat begonnen, und wer das nicht glauben will, sehe sich die bundesdeutschen Abwehrmaßnahmen dahingehend an, dass sich bei der Bundestagswahl 2017 nicht jene mehr oder weniger sublime Lenkung der Wähler wiederholt wie bei der US-Präsidenten-Wahl. Immerhin agieren Selbstregulierungskräfte im Netz – wenn auch zu wenige –, immerhin gibt es bei Facebook mittlerweile auch eine gewisse Einsicht, einen gewissen Willen zur Kenntlichmachung falscher Inhalte. Der Konzern hat ansatzweise begriffen, dass er für Manipulationen instrumentalisiert werden kann.
Greifen wir – gerade im Zusammenhang mit Donald Trump – zu einem Beispiel, das anschaulich macht, wie heikel es ist, bloßen Behauptungen anzuhängen und womöglich seine Sympathien und Weltsichten und Entscheidungen danach auszurichten: Kürzlich wur- de – auch seitens angesehener, respektierter, glaubwürdiger Medien – berichtet, dass ein britischer Geheimagent Material darüber besitze, dass Trump vor Jahren bei einem Moskau-Besuch eine Hotel-SexParty veranstaltet habe. Den USGeheimdiensten sei der Inhalt des Materials bekannt; es sei auch Obama und Trump dargelegt worden.
Das Ganze hat allerdings bis zum heutigen Tag einen Pferdefuß: Der Inhalt des Dossiers ist nicht belegt, nicht bewiesen. Was also soll man mit einer solchen Agenten-Behauptung anstellen? Trump-Gegner werden auf das Dossier erwartungsgemäß mit „Wundert mich nicht im Geringsten!“reagieren, TrumpAnhänger mit „Infam!“und mit der Einordnung der Nachricht als fake. Alles andere als zu vernachlässigen bleibt auch: Viel Geld kann verdient werden in der Medienbranche durch wirkliche oder vermeintliche Skandale, Affären, „Sensationen“.
Keiner aber weiß Exaktes – von Belegen ganz zu schweigen. Dennoch tobt natürlich der oben erwähnte Informationskrieg um die Behauptung – beziehungsweise über Glaube oder Unglaube. Alles scheint ja möglich bei diesem Vorgang: die notwendige Enthüllung einer Verfehlung Donald Trumps mit der möglichen Folge seiner Erpressbarkeit durch Russland auf der einen Seite; böse Verleumdung, von der immer etwas hängen bleibt, auf der anderen.
Wohl, wenn in einem solchen Moment ein Medium – also eine seriöse Zeitung, ein glaubwürdiger TV-Sender, eine respektierte Radio-Welle – seine Stimme erhebt und aus dem Vorgang keinen Skandal, keinen „scoop“macht, sondern den Vorgang nüchtern einordnet. Indem dieses Medium explizit darauf hinweist, dass die Agenten-Behauptungen nicht bewiesen sind. Indem vor allem auch erläutert wird, welche politischen Winkelzüge und Interessen mit welchen Folgen hinter der Angelegenheit stecken könnten.
Und um genau dies wird es künftig seitens seriöser Medien im Interesse der Gesellschaft vor allem gehen müssen auf dem weiten Feld namens „Ende der Gewissheiten“: um genaue Sichtungen, genaue Prüfungen, genaue Einordnungen, genaue Erklärungen der tatsächlichen – oder vorgeblich behaupteten – Vorgänge dieser Welt. Das ist Chance und nachgefragtes Stellungsmerkmal zugleich in einer millionenstimmigen Gesellschaft, die ja nicht nur Halt und Orientierung sucht, sondern zu ihrer Fortentwicklung zwingend benötigt.
Und zum Seriösen gehört auch – jenseits von Nachrichtenunterdrückung und Nachrichtenfavorisierung – die Nachrichtenauswahl. Was ist, abseits von Unterhaltung und Überraschendem, wirklich relevant für unsere Welt und deren Zukunft, was hat wirklich Bedeutung, was nicht?
Fake News bleiben jedoch nicht die einzige Gefahr für die Nachrichtenlage innerhalb der Informationsgesellschaft. Eine andere ist das Gerangel und der selbst auferlegte Druck, schneller zu sein als die Konkurrenz. Dass dies den Samen setzt zu Ungenauigkeiten, ja gar „kalt“Vorformuliertem, liegt auf der Hand. Zwei Beispiele jüngster Zeit: Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Nichtverbot der NPD, das bei einigen Online-Nachrichtenportalen erst einmal für etliche Minuten in sein Gegenteil verkehrt war, weil der eingangs noch einmal verlesene Verbotsantrag voreilig mit der Urteilsverkündung verwechselt worden war.
Und dann in der Wochenzeitung Zeit anlässlich der ElbphilharmonieEröffnung eine Konzertreportage, die bereits gedruckt war, bevor der Abend überhaupt begonnen hatte. Peinlich – und Beleg dafür, dass unseriöser Journalismus auch in an sich seriösen Publikationen stattfinden kann. Gelten sollte vielmehr: Je schneller und kurzatmiger, je weniger geprüft sich (Wort-)Meldungen digital oder analog verbreiten, desto mehr sollten Zeitung, Radio, Fernsehen im Interesse der Gesellschaft glaubwürdige Instanzen darstellen – und zwar unabhängig von Obrigkeiten, Anzeigenkunden, Leser-Erwartungen.
Was dabei tabu zu sein hat: das Zuspitzen und Skandalisieren, das Emotionalisieren und Provozieren, das locker-flockig Hingeworfene sowie gesucht steile Thesen. Natürlich auch die Quotenjagd. Stattdessen braucht es Besonnenheit und Reflexion, sachliche Argumentation sowie investigative Recherche – und verstärkt auch die redliche Selbsterklärung über das eigene Handeln und Tun. Nötig ist die Übernahme von Verantwortung und das „Indie-Verantwortung-nehmen“der sozialen Netzwerke, eine nun auch seitens der Politik erkannte Aufgabe.
Je unübersichtlicher die Welt und ihre Nachrichtenlage, desto wertvoller, marktträchtiger das verantwortungsvolle Medium. Ganz besonders dort, wo sich so viele schreibend, lesend tummeln – im Netz mit seinen vielen Parallelwelten.