Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Anonyme Gespräche, die bis an die Grenze gehen
Soziales Wer bei der Telefonseelsorge anruft, hat Beziehungsprobleme, ist einsam oder denkt daran, sich etwas anzutun. Wie die geduldigen ehrenamtlichen Zuhörer am anderen Ende der Leitung mit ihrer schweren Aufgabe zurechtkommen
Die Frau am anderen Ende der Leitung ist verwirrt. Sie ist tieftraurig und weiß nicht warum. Sie hat doch ein wunderbares Wellness-Wochenende mit ihrem neuen Partner hinter sich. Warum nur spürt sie so eine Traurigkeit? Die Frau ist eine von sieben Anrufern, die an diesem Montagvormittag bei Petra Wenisch* Rat suchen. Und Trost. Die 54-Jährige arbeitet bei der ökumenischen Telefonseelsorge in Augsburg. Sie ist eine von 76 Ehrenamtlichen, die sich im Schichtdienst rund um die Uhr, Tag und Nacht, um fremde Menschen am Telefon, per Mail oder im Chat kümmern. Im zweiten Stock eines Gebäudes mitten in der Stadt, an dessen Eingang nichts angeschrieben steht. Die Telefonseelsorger wollen anonym sein.
Wenisch sitzt an diesem Wintervormittag in einem schmalen Zimmer an einem Schreibtisch vor dem einzigen Fenster. Draußen tanzen die Schneeflocken. Die Stehlampe wirft Licht auf den Schreibtisch mit dem Computer. Ein großer Block liegt da. Und ein kleines Gebetsbüchlein. Hinter Wenisch steht an einer Wand eine Bettcouch, falls sie und ihre Kollegen in einer Nachtschicht mal ein Auge zu tun wollen. Gegenüber ist ein volles Bücherregal mit Fachliteratur für Psychologie und Seelsorge. Der schlauchförmige Raum erinnert fast an ein Jugendzimmer. Nur dass in solch eines nicht so viele Sorgen, Ängste und Nöte gehören.
Inzwischen hat Wenisch das Telefonat mit der Anruferin beendet. Die zierliche Frau mit den festen, blonden, langen Haaren ist zufrieden. „Wir konnten gemeinsam erarbeiten, warum sie nach so einem schönen Wochenende so unerklärlich traurig ist.“Die geschiedene Mutter zweier Kinder hatte letztlich Angst, von ihrem 16 Jahre jüngeren Partner eines Tages verlassen werden zu können. „Der Anruferin tat es gut, dass sie das selbst für sich herauskristallisieren konnte.“Wenisch beschreibt ihre eigene Rolle in derartigen Gesprächen. „Ich selbst muss frei von allem sein. Ich bin bei solchen Telefonaten der Spiegel des Anrufers, indem ich zum Beispiel Schlüsselworte oder Sätze wiederhole.“Allein das helfe oftmals, dass die Anrufer von sich aus bei ihren Problemen weiterkommen.
Wenisch hat während des Telefonats auf dem Block intuitiv mitgemalt. Ein Herz, das im Spannungsfeld von zwei Pfeilen links und rechts davon steht. Sie reißt das Blatt ab, steckt es in den Schredder neben dem Schreibtisch. Von den anonymen Anrufen soll nichts übrig bleiben. Zumindest auf Papier. Im Computerprogramm wird nach jedem Telefonat ein Protokoll ausgefüllt. „Das macht es auch für die Kollegen einfacher, falls es sich um einen Mehrfachanrufer handelt.“
Neun Monate dauert die Ausbildung zum Telefonseelsorger. Diakon Franz Schütz, der die „TS“, wie er sie nennt, seit 20 Jahren leitet, ist stolz darauf. „Wir haben ein anspruchsvolles Auswahlverfahren. Denn nicht jeder ist für die TS geeignet“, sagt der Mann mit dem offenen Gesicht im Gruppenraum nebenan. Was man mitbringen müsse, seien Empathie, Feinfühligkeit, Selbstreflexion, Lebenserfahrung und Engagement. „Aber bloß keinen Missionseifer.“In Rollenspielen werden verschiedene Methoden der Gesprächsführung geübt. Die Ehrenamtlichen müssen zudem lernen, mit Trauerarbeit umzugehen und am Telefon etwaige Krankheitsbilder, wie Depressionen oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, herauszuhören. Entsprechend können sie auf Anrufer reagieren. „Bei einem depressiven Anrufer ist man sensibel, feinfühlig und setzt wenig Impulse“, bringt Schütz ein Beispiel. „Einen Borderliner wiederum würde zu viel Empathie aggressiv machen.“Menschen, die bei der Telefonseelsorge anrufen, werden hier schlicht „Anrufer“genannt. Nicht Klienten oder gar Patienten. therapieren nicht, sondern begleiten und unterstützen.“Der Anrufer soll sich verstanden fühlen und Erleichterung erfahren.
Bei Petra Wenisch, die ihre Ausbildung im Juli 2016 abgeschlossen hat, schellt an dem Montagvormittag erneut das Telefon. Wenisch hebt immer erst beim zweiten Klingeln ab. Die Frau am anderen Ende der Leitung ist höchst erregt. Sie schimpft, redet, schimpft, redet. „Mhm, mhm“, macht Wenisch mit ihrer ruhigen Stimme, wirft ab und zu einen Satz ein, spricht der Frau
Am Schluss ist die Anruferin nicht mehr so wütend
nach. „Ah, okay Sie führten schon länger keine Beziehung mehr.“Sie macht sich Notizen. „Mhm, mhm.“Die Heizkörper im Raum rauschen monoton. Wenisch hört zu. „Sie haben ihm eine SMS geschickt, dass er seine Sachen holen soll, aber er reagiert nicht. Kann es sein, dass er das erst mal auf sich wirken lassen muss?“, fragt sie in den Hörer.
Draußen wird der Schneefall stärker. Immer dickere Flocken trudeln am Fenster vorbei. „Ich höre ganz viel Erwartung heraus, die Sie an den Mann haben“, sagt Wenisch nach weiteren Minuten. Sie sagt es behutsam, aber bestimmt. Ungefähr eine halbe Stunde geht es zwischen den beiden Frauen hin und her. Wenisch hakt nach. Mit Nachfragen lässt sie die Anruferin sich selbst reflektieren. Das Telefonat neigt sich dem Ende entgegen. „Können Sie, aus unserem Gespräch heraus, die Position des Mannes verstehen und annehmen?“, fragt Wenisch schließlich. Die Anruferin verspricht, ihrem Ex-Partner mehr Zeit einzuräumen, bis er seine Sachen aus der ehemals gemeinsamen Wohnung holt. Sie ist letztendlich nicht mehr ganz so wütend über die zerbrochene Beziehung. „Super, das ist schön“, freut sich Wenisch. „Ich wünsche Ihnen alles Gute und alle Kraft und Gelassenheit.“Sie legt auf und schreibt das Protokoll.
Der ehrenamtliche Job gibt ihr viel, sagt sie. Auch was die Selbstreflexion anbelangt. Probleme der Anrufer nehme sie nicht mit nach Hause. „Und wenn es der Fall wäre, können die Kollegen und ich das bei der Supervision thematisieren.“Drohungen am Telefon hat Wenisch bislang noch nicht erlebt. Im Gegensatz zu manchen Kollegen. Das ist übrigens auch ein Grund, warum die Adresse der Telefonseelsorge geheimgehalten wird. Ein anderer Grund ist, dass manche Anrufer die Seelsorger kennenlernen wollen. „Da wird auch mal angeboten, einen selbst gebackenen Kuchen vorbeizubringen“, sagt Leiter Schütz schmunzelnd. Doch ein persönlicher Kontakt zwischen Anrufer und Mitarbeiter ist unerwünscht. Wenisch erklärt, warum. „Der Anrufer würde sich in eine Art Abhängigkeit begeben. Aber die Verantwortung für sein Wohlergehen muss bei ihm bleiben.“
Egal, um welches Problem es geht, Wenisch begegnet jedem Anrufer mit vollster Aufmerksamkeit und mit Respekt. „Weil diese Menschen Mut haben, bei uns anzurufen.“Auch wenn es „nur“um Beziehungsprobleme geht. Die Tele„Wir fonseelsorgerin betont, dass nicht jeder Mensch jemandem zum Reden hat. „Viele rufen auch aus Dörfern an“, weiß sie aus Erfahrung. „Diese Anrufer trauen sich oftmals nicht, mit jemandem aus dem Dorf offen zu sprechen.“Probleme würden dort lieber unter dem Deckel gehalten. „Die Anruferin eben kam garantiert aus einem Dorf.“
Beziehungsfragen waren bei der Telefonseelsorge Augsburg im vergangenen Jahr mit rund 44 Prozent das zweithäufigste Thema. Auch bei Männern. Die rufen immer häufiger an. Wenisch findet das gut. Sie erzählt von einem jungen Mann, der am Ende des Telefonats ausrief: „Ich hatte ja keine Ahnung, wie eine Frau tickt. Hätte ich doch eher schon bei der Seelsorge angerufen!“Worum es ging? Dass er nach dem Sex immer einschlief und seine Freundin aber noch kuscheln wollte. „Der junge Mann wollte wissen, warum das bei Frauen so ist“, berichtet sie. Sie habe ihm erklärt, dass dem Mann danach erst einmal sämtliche Energie fehle und die Frau in diesem Moment aber ein tiefes Gefühl der Nähe verspüre. Zwei verschiedene Wahrnehmungen und Empfindungen also. „Na gut“, habe der Mann gesagt. „Dann behalte ich sie im Arm und schlafe ein.“
46 Prozent der Anrufer im Jahr 2016 suchten das Gespräch aufgrund psychischer Probleme, wie depressive Verstimmungen, Ängste und weitere seelische Nöte. Bei mindestens einem Telefonat pro Tag ging es um Suizid. Für die Telefonseelsorger ist dies das heikelste Thema. Zu denken, es liege in der eigenen Verantwortung, ein Menschenleben zu retten, sei falsch, sagt Leiter Schütz. „Wichtig ist es, als Seelsorger keine Angst zu haben und mit dem Anrufer an die Grenze des Todes zu gehen.“Zu früh zu intervenieren
Manche Anrufe stellen sich als Scherz heraus
mit Aussagen wie ,Denken Sie an Ihre Frau‘, sei in solchen Fällen nicht hilfreich. Verständnis zu zeigen, warum jemand nicht mehr leben will, sei hingegen ein Rettungsanker. „Irgendwann ermutigt man die Anrufer dann, eine Rettungsleitstelle oder in der Psychiatrie anzurufen.“Manchmal braucht es diesen Schritt jedoch gar nicht. Er erzählt von einer jungen Frau, die eines Tages bei ihm anrief. Sie wollte sich umbringen. Im Laufe des Gesprächs stellte sich der Grund für die Suizidabsicht heraus. Die Anruferin hatte vor etlichen Jahren die Niere eines Mädchens gespendet bekommen, das tödlich verunglückt war. „Ich versuchte sie dazu zu bringen, das Mädchen in ihr Leben mit einzubeziehen.“Für Todessehnsucht, weiß Schütz, gebe es oft einen Grund. Fälle, in denen sich der Anrufer dennoch das Leben nahm, seien deutschlandweit aber sehr selten. Die restlichen 10 Prozent an Anrufen fallen im Übrigen unter „gleich wieder aufgelegt“und „Scherzanrufe“, die hauptsächlich von Jugendlichen getätigt werden. Schütz findet diese aber nicht schlimm. „Das sind Jugendliche. Die leben in ihrer eigenen Welt“, sagt er nachsichtig.
Petra Wenisch’ Schicht geht zu Ende. Sie reißt noch mal kurz das Fenster auf. Sich nach jedem Telefonat kurz sammeln, durchatmen, das braucht sie für die Konzentration. Das Telefon klingelt. Ein Mann erzählt, dass er als Statist bei einem Filmdreh eine Frau kennengelernt hat. Er hatte sich aber nicht getraut, sie anzusprechen. Jetzt sei der Dreh vorbei und er ärgere sich über sich selbst. Mit Zuhören und wenigen Worten bekommt Wenisch heraus, dass der Mann seit einem Unfall vor 26 Jahren linksseitig gelähmt ist. Und dass er sich ritzt. Er hätte so gerne eine Partnerschaft. Wenisch fühlt sich hinein, zeigt Verständnis, gibt Tipps, wie er Mut fassen kann. Dann ist Schichtwechsel. Die nächste Seelsorgerin wartet schon in der Gemeinschaftsküche darauf, dass der Schreibtisch in dem Zimmer am Ende des Flurs frei wird.
Wenisch nimmt ihre Jacke von der Garderobe und verabschiedet sich von Franz Schütz. Die Pädagogin hat wieder eine Schicht hinter sich gebracht. Jetzt will sie noch Besorgungen in der Stadt machen. Wenig später fällt unten die Eingangstür des Gebäudes hinter ihr zu. Die Tür, an der nichts angeschrieben steht.
*Name von der Redaktion geändert