Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Als die Hiesigen Zimmer räumen mussten
Heimat(los) In Ehingen mussten Einheimische und Flüchtlinge zusammenrücken. Not kannten sie alle. Was sich veränderte. Zwei Schwestern erzählen / Serie (2)
„Es war eine harte Zeit für alle, für die Einheimischen wie für die Neuankömmlinge“– so beginnen die beiden Schwestern Barbara Wolf (93) und Gerlinde Zerle (85) aus Ehingen die Erzählungen um das historische Ereignis im Jahr 1946, als die sudetendeutschen Heimatvertriebenen im Dorf ankamen. In ihrem Elternhaus war das Thema „Flüchtlinge“, wie man sie umgangssprachlich nannte, allgegenwärtig.
Denn der Vater, Rupert Speer, war zu dieser Zeit Bürgermeister und für deren Verteilung und Einquartierung in der Gemeinde zuständig. „Sein Bürgermeisteramt hatte er sich damals nicht ausgesucht, er wurde auch nicht gewählt, sondern nach Kriegsende dazu bestimmt – von der amerikanischen Militärregierung auf Vorschlag des örtlichen Pfarrers Johann Käßmayr. Denn Vater war parteilos und als guter Organisator bekannt“, berichtet Barbara Wolf, die seine Schreibkraft wurde.
Die Situation im Jahre 1946 stellte die Gemeinde vor eine große Herausforderung, wissen die beiden Zeitzeuginnen. Mit Sorgenfalten auf der Stirn habe sich der Vater, ein Zimmermeister, gefragt, wo er die ganzen Leute nur hintun solle. Der erste Transport kam im April „In der Au“an. Gemeindediener Berchtenbreiter brachte die Nachricht über die erste „Lastwagenladung“mit sudetendeutschen Vertriebenen. Im Laufe des Jahres sollten weitere folgen. Der Gemeinderat wurde verständigt und es galt nun, die Neuankömmlinge möglichst nach Platzbedarf, Beruf und Fähigkeiten im Ort einzuquartieren. „Kann jemand melken?“fragte etwa ein einheimischer Landwirt, worauf sich eine 42-jährige Mutter mit ihren zwei Kindern und der Großmutter meldete und seinem Anwesen zugeteilt wurde. Doch nicht immer herrschte Einverständnis, manchmal stieß die behördliche Einweisung auch auf Widerstand in der Bevölkerung.
Einige Male fiel die Frage: „Bürgermeister, warum tust du uns das an und schickst uns DIE?“In den Höfen und Häusern musste man notgedrungen zusammenrücken. Nicht selten teilten sich vier oder mehr Heimatvertriebene ein kleines Zimmer, eingesetzt wurden sie nach ihrer Ankunft vor allem in der Landwirtschaft.
„Die Not war allgegenwärtig – auf beiden Seiten“wissen die beiden Schwestern aus dieser Zeit zu berichten: „Die traumatischen Erlebnisse des Krieges belasteten, die Wohnsituation in den Häusern war angespannt, die wirtschaftliche Not groß, das Geld fast wertlos“. Mit der Ankunft der Sudetendeutschen seien aber auch unbekannte wie praktische Dinge ins Dorf gekommen, etwa der Mohn- und Streuselkuchen oder das Waschbrett.
Die neue Heimat, die sich für die Menschen zunächst nicht unbedingt als heimisch darstellte, musste erarbeitet werden. Gerlinde Zerle berichtet vom enormen Fleiß der Heimatvertriebenen, die „schon bald geschaut haben, sich eine eigene Existenz aufzubauen“. Sie erzählt von einem jungen Mann, der im Baustoffwerk arbeitete und jeden Tag einen Ziegelstein „mit nach Hause“trug für den Zukunftstraum eines Eigenheims in der neuen Heimat.
„Im Laufe der Zeit näherten sich beide Seiten an“, blicken die beiden Ehinger Zeitzeuginnen zurück und die Integration sei letztlich ein Gemeinschaftswerk beider Seiten gewesen. Gerade die jüngere Generation traf sich bald schon zum sonntäglichen Tanznachmittag im Gasthof „Dichtl“und auch „Flüchtlingsbälle“wurden abgehalten. Freundschaften entstanden und vertieften sich: Fünf Jahre nach seiner Ankunft in Ehingen standen Barbara Wolf und ihr Mann Anton, heimatvertrieben aus Karlsbad, vor dem Traualtar.
„Kann jemand melken?“ Frage eines Landwirts